Tanz mit dem Schafsmann
dich anschaue«, sagte sie. »Nichts weiter.«
»Kannst du dich nicht wieder ausziehen?«, bat ich sie. Ich brauchte Gewissheit. Dass sie wirklich hier war. Dass wir uns in dieser Welt befanden.
»Klar«, sagte sie. Sie band ihre Armbanduhr ab und legte sie auf den Tisch. Zog die Schuhe aus und stellte sie nebeneinander. Knöpfte sich die Bluse auf, zog sich die Strümpfe aus, schlüpfte aus dem Rock und faltete alles ordentlich zusammen. Sie nahm die Brille ab und legte sie ebenfalls mit dem gewohnten Klacken auf den Tisch. Lautlos schritt sie durchs Zimmer, schlüpfte ins Bett und kuschelte sich nackt an meine Seite. Ich drückte sie fest an mich. Sie fühlte sich warm und weich an, mit dem Gewicht von etwas Realem.
»Du bist nicht verschwunden«, sagte ich.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Ich habe dir doch gesagt, so einfach verschwinden Menschen nicht.« Wirklich nicht? dachte ich, während ich sie fest in meinen Armen hielt. Es konnte praktisch alles passieren. Diese Welt ist zerbrechlich und riskant. Es konnte alles Mögliche geschehen, ganz leicht. Im Totenkabinett war immer noch ein Skelett übrig. War es der Schafsmann? Oder eine andere Person, deren Tod für mich vorbereitet wurde? Oder etwa ich selbst? Vielleicht wartete es dort in dem fernen schummrigen Zimmer auf meinen eigenen Tod. Entfernte Geräusche aus dem alten Hotel Delfin drangen zu mir heran. Wie ein bereits hörbarer Nachtzug, der aus weiter Ferne mit dem Wind heranbrauste. Der Fahrstuhl ratterte quietschend nach oben und hielt. Jemand lief durch den Korridor. Jemand öffnete eine Tür, jemand schloss eine Tür. Im Hotel Delfin. Dessen bin ich mir sicher. Überall quietscht und rappelt es vor Altersschwäche. Ich bin ein Teil davon. Jemand vergießt Tränen um mich. Vergießt Tränen über etwas, das ich nicht beweinen kann.
Ich küsste Yumiyoshi aufs Augenlid.
Sie war in meinen Armen eingeschlummert. Ich konnte nicht schlafen. In meinem Körper war nicht ein Quäntchen Müdigkeit. Hellwach lag ich da, wie ein versiegter Brunnen. Ich hielt Yumiyoshi eng umschlungen, als wollte ich sie einwickeln. Ab und zu weinte ich, lautlos. Weinte um alles, was ich verloren hatte. Und um das, was noch nicht verloren gegangen war. Tatsächlich weinte ich nur ein ganz kleines bisschen. Yumiyoshis Körper lag weich in meinen Armen – warm verstreichende Zeit. Die Zeit tickte die Wirklichkeit.
Schließlich brach leise der Tag an. Ich hob den Kopf und beobachtete den Zeiger des Weckers, der sich langsam, synchron mit der realen Zeit, bewegte. Unaufhaltsam, Schritt für Schritt. Yumiyoshis Atemhauch hinterließ einen warmen, feuchten Fleck auf der Innenseite meines Arms.
Die Wirklichkeit. Hier bleibe ich.
Der Zeiger der Uhr stand inzwischen auf sieben. Sommerliches Morgenlicht drang ins Zimmer und zeichnete ein leicht verzogenes Quadrat auf den Boden. Yumiyoshi schlief noch. Ich strich ihr Haar zurück und küsste sie zärtlich aufs Ohr. Wie soll ich sie wecken? überlegte ich etwa drei, vier Minuten. Man kann es auf ganz verschiedene Weise sagen. Es gibt viele Möglichkeiten, viele Redewendungen. Würde meine Stimme gut klingen? Würde meine Botschaft sich durch die wirkliche Luft schwingen können? Ich probierte im Stillen einige Wendungen aus. Und entschied mich dann für die schlichteste.
»Yumiyoshi, es ist Morgen«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
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