Tausend strahlende Sonnen
und Laila hin und her.
Laila schlug zurück.
Es war das erste Mal, dass sie die Hand gegen einen anderen erhob, abgesehen von den Kabbeleien mit Tarik, die aber eher schüchtern und freundschaftlich ausgetragen worden waren, mit einem Knuff oder Klaps als Ausdruck ihrer sowohl irritierend als auch spannend empfundenen Befangenheit. Sie hatte damals immer auf den Muskel gezielt, den Tarik neunmalklug als Deltoid bezeichnete.
Laila spürte jetzt, wie ihre geballte Faust auf Raschids stoppeligem Kinn auftraf. Es klang, als wäre ein Reisbeutel zu Boden gefallen. Sie hatte so hart zugeschlagen, dass Raschid ins Wanken geriet und zurücktaumelte.
In der anderen Ecke des Zimmers wurden Schreie laut. Wer sie ausstieß, hörte Laila nicht. Sie war zu perplex, um darauf zu achten, und schien abzuwarten, ob ihr Verstand realisierte, was sich gerade zugetragen hatte. Als er es tat, war ihr zum Lachen zumute, und sie musste unwillkürlich schmunzeln, als Raschid zu ihrer Verwunderung wortlos den Raum verließ.
Plötzlich war ihr, als fiele alle Not, die sie selbst und im Mitgefühl für Aziza und Mariam erleiden musste, von ihr ab, als löste sie sich auf wie Zalmais Fingerabdrücke auf dem Fernsehschirm. So absurd es auch scheinen mochte, fühlte sie sich doch in diesem Moment des Aufbegehrens entschädigt dafür, dass sie Raschids entwürdigende Zumutungen so lange ertragen hatte.
Dass Raschid ins Zimmer zurückgekehrt war, bemerkte sie erst, als er ihr die fleischigen Hände um den Hals geschlungen hatte. Er stemmte sie in die Höhe und stieß sie mit dem Rücken an die Wand.
Aus nächster Nähe erschien ihr sein Gesicht unmöglich groß. Ihr fiel auf, dass es mit den Jahren aufgedunsen war. Das Aderngeflecht auf der Nase hatte sich ausgeweitet. Raschid sagte nichts. Worte erübrigten sich.
Die Razzien waren der Grund für das ausgehobene Loch hinterm Schuppen. Hatte man vor kurzem noch allenfalls ein- oder zweimal im Monat mit ihnen rechnen müssen, kamen die Taliban in jüngster Zeit fast täglich. Sie konfiszierten nach Belieben, versetzten Fußtritte, teilten Hiebe aus. Häufig zerrten sie ihre Opfer auch auf die Straße, um ihnen in aller Öffentlichkeit Fußsohlen und Handflächen auszupeitschen.
»Vorsichtig«, sagte Mariam, die am Rand der Grube kniete. Gemeinsam senkten sie den mit einer Plastikfolie umwickelten Fernseher ins Loch.
»Gut so«, sagte Mariam.
Sie füllten das Loch auf, stampften den Boden mit den Füßen fest und verwischten verräterische Spuren.
»Das wär’s.« Mariam wischte sich die Hände am Kleid ab.
Wenn die Taliban ihre Razzien einstellten, würden sie, so war es verabredet, das Gerät wieder ausgraben. Doch darüber mochten noch Monate vergehen.
Laila träumte, mit Mariam hinter dem Schuppen wieder eine Grube auszuheben. Doch diesmal wird Aziza vergraben, deren Atem die Kunststofffolie beschlägt, in die sie eingewickelt ist. Laila sieht die Panik in den Augen ihrer Tochter, die weißen Handflächen, die sich von innen an die Folie pressen. Aziza schreit. Laila kann sie nicht hören. »Nur für eine Weile« ruft sie ihr zu, »es ist nur für eine Weile. Wegen der Razzien, verstehst du, mein Liebes? Wenn die vorüber sind, werden dich Mami und Khala Mariam wieder ausgraben. Das verspreche ich dir. Und dann spielen wir wieder miteinander. Wir spielen, was du willst.« Sie schaufelt Erde ins Loch.
Schweißüberströmt wachte Laila auf, den Geschmack von Staub auf der Zunge.
41
Mariam
Die Dürre ging ins dritte Jahr und erreichte im Sommer 2000 ihren Höhepunkt.
Die Bewohner der Provinzen Helmand, Zabol und Kandahar hatten ihre Höfe verlassen und nomadisierten auf der Suche nach Wasser und grünen Weiden für ihr Vieh. Als dann ihre Ziegen, Schafe und Kühe verdursteten, kamen sie nach Kabul. An den Hängen des Kareh-Ariana entstanden Slums, wo sich meist fünfzehn bis zwanzig Menschen eine der provisorischen Hütten teilten.
Es war auch der Sommer, in dem das Spielfilmdrama Titanic im Fernsehen gezeigt wurde. Aziza war so angetan davon, dass sie immer wieder Szenen nachzuspielen versuchte, und zwar stets in der Rolle des Jack Dawson.
»Sei leise, Aziza jo .«
»Jack! Sag meinen Namen, Khala Mariam. Sag ihn. Jack!«
»Dein Vater wird böse sein, wenn du ihn weckst.«
»Jack, und du bist Rose.«
Mariam musste sich geschlagen geben und einverstanden erklären. »Schön, du bist Jack«, sagte sie, rücklings auf dem Boden liegend. »Das heißt aber auch, dass du schon in
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