Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
Vom Netzwerk:
Bauch mit einem Lappen ab, der mit einer gelbbraunen Flüssigkeit getränkt war. Eine andere Schwester stand neben der Tür, die sie immer wieder einen Spaltbreit öffnete, um nach draußen zu spähen.
    Die Ärztin hatte ihre Burka abgelegt. Mariam sah einen Schopf silbriger Haare, schwere Augenlider und schlaffe Mundwinkel, die von Müdigkeit zeugten.
    »Sie verlangen, dass wir selbst beim Operieren eine Burka tragen«, erklärte sie und deutete auf die Schwester an der Tür. »Sie passt auf, dass keiner kommt, und schlägt gegebenenfalls Alarm.«
    Sie sagte dies ganz nüchtern und wie beiläufig, und Mariam spürte, dass sie längst alle Wut hinter sich gelassen hatte. Eine Frau, so dachte sie, die noch froh darüber sein konnte, dass sie überhaupt arbeiten durfte, sich gleichzeitig aber darüber im Klaren war, dass auch dieses Privileg auf dem Spiel stand.
    An der Trage waren auf Schulterhöhe zwei aufrechte Metallstangen angebracht, zwischen die nun die Schwester, die Laila den Bauch desinfiziert hatte, ein Tuch spannte, das eine Art Vorhang zwischen Laila und der Ärztin bildete.
    Mariam stellte sich ans Kopfende der Trage und beugte sich tief herab, um ihre Wange an Lailas Wange zu legen. Sie spürte, wie ihr die Zähne klapperten. Die Hände der beiden waren fest ineinander verschränkt.
    Durch den Vorhang sah Mariam den Schatten der Ärztin auf der linken, den der Schwester auf der rechten Seite. Laila hatte ihre Lippen gegen das Zahnfleisch gepresst; der Speichel drang in Blasen zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie gab kleine Zischlaute von sich.
    Die Ärztin sagte: »Fassen Sie sich ein Herz, kleine Schwester.«
    Sie beugte sich über Laila.
    Laila riss Augen und Mund auf. Sie verkrampfte, zitterte am ganzen Leib. Die Sehnen am Hals waren zum Zerreißen gespannt. Schweiß tropfte ihr vom Gesicht. Ihre Hände quetschten Mariams Finger.
    Mariam sollte sie für immer dafür bewundern, wie tapfer sie aushielt und wie lange es dauerte, bevor sie nicht mehr anders konnte als zu schreien.

40
    Laila
Herbst 1999
    Das Loch zu graben ging auf Mariams Vorschlag zurück. Eines Morgens zeigte sie auf eine Stelle hinter dem Werkzeugschuppen. »Da wär’s gut«, sagte sie. »Versuchen wir’s.«
    Sie wechselten sich dabei ab, den Boden mit einem Spaten zu lockern und die lose Erde beiseitezuschaufeln. Es sollte kein großes oder tiefes Loch werden, und doch kostete die Arbeit mehr Kraft als gedacht. Seit 1998 herrschte Dürre, nun schon im zweiten Jahr und mit verheerenden Auswirkungen für das ganze Land. Im vergangenen Winter hatte es kaum geschneit, und während des Frühlings war kein Tropfen Regen gefallen. Überall in Afghanistan waren Bauern gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen, ihre ausgetrockneten Felder zu verlassen und auf der Suche nach Wasser von Dorf zu Dorf zu ziehen. Sie wanderten nach Pakistan aus oder in den Iran. Viele versuchten, in Kabul Fuß zu fassen. Aber auch dort waren die Wasservorräte fast aufgebraucht und alle weniger tiefen Brunnen versiegt. Vor den tiefen Brunnen standen Laila und Mariam oft stundenlang Schlange, bis sie endlich an die Reihe kamen und Wasser schöpfen konnten. Das Flussbett des Kabul war knochentrocken, voller Unrat und Abfall.
    Und so mühten sie sich mit dem Spaten ab, denn der von der Sonne gebackene Boden war wie versteinert.
    Mariam war in diesem Jahr vierzig geworden. Das über der Stirn aufgerollte Haar zeigte graue Strähnen. Unter den Augen hing die Haut in braunen halbmondförmigen Falten herab. Zwei Schneidezähne fehlten; der eine war von allein ausgefallen, der andere von Raschid herausgeschlagen worden, nachdem sie Zalmai aus Versehen fallen gelassen hatte. Ihre Haut war wie gegerbt von den vielen Stunden unter glühender Sonne im Hof, wo sie Zalmai und Aziza beim Spielen beaufsichtigte.
    »Das müsste reichen«, sagte Mariam, als ihr das Loch tief genug erschien. Die beiden Frauen traten zurück und betrachteten ihr Werk.
    Zalmai war jetzt zwei, ein strammer kleiner Junge mit lockigem Haar. Er hatte wie Raschid braune Augen, und seine Wangen waren immer rosig, bei jedem Wetter. Auch den tiefen, wie abgezirkelten Haaransatz hatte er von seinem Vater.
    Allein mit seiner Mutter, war Zalmai freundlich und verspielt. Er liebte es, auf ihre Schultern zu klettern oder mit Aziza im Hof Verstecken zu spielen, auch stieg er gern auf Lailas Schoß und ließ sich etwas von ihr vorsingen. Sein Lieblingslied war »Mullah Mohammad jan«. Wenn sie ihm die

Weitere Kostenlose Bücher