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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Marschlandschaften sonnenbaden. Ich fürchte, er hat auch welche gemalt, die dem Sonnenuntergang entgegensegeln.«
    »Flamingos«, wiederholte Laila, die Augen auf Tarik gerichtet, der an der Wand hockte und sein gesundes Bein angewinkelt hatte. Es drängte sie wieder, ihn in die Arme zu nehmen, wie es sie auch schon vor der Tür gedrängt hatte, als sie auf ihn zugelaufen war. Es war ihr peinlich, daran zu denken, wie sie sich ihm an die Brust geworfen, geweint und mit schluchzender Stimme immer und immer wieder seinen Namen gestammelt hatte. War sie womöglich zu überschwänglich gewesen, fragte sie sich. Vielleicht. Aber sie hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Und jetzt sehnte sie sich wieder danach, ihn zu berühren, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass er nicht bloß ein Traum, eine Erscheinung war, sondern in Fleisch und Blut vor ihr saß.
    »In der Tat«, murmelte Tarik.
    Die Taliban, so sagte er, hätten Anstoß genommen an den langen nackten Beinen der Vögel. Man hatte dem Maler die gefesselten Füße blutig geschlagen und ihn vor die Wahl gestellt, entweder seine Gemälde zu vernichten oder die Flamingos auf züchtige Weise darzustellen. Daraufhin hatte er zum Pinsel gegriffen und jedem einzelnen Vogel Hosen gemalt.
    »Das gibt’s nun also auch, islamische Flamingos«, frotzelte Tarik.
    Laila hätte laut auflachen mögen, hielt sich aber zurück. Sie schämte sich ihrer gelben Zähne und für den fehlenden Schneidezahn, ebenso auch wegen ihres gealterten Gesichts und der geschwollenen Lippen. Sie bedauerte, keine Gelegenheit gehabt zu haben, sich zu waschen oder wenigstens die Haare zu kämmen.
    »Aber er wird zuletzt lachen, dieser Maler«, sagte Tarik. »Er hat nämlich für die Hosen Wasserfarben verwendet. Wenn die Taliban weg sind, wird er die Bilder nur abzuwaschen brauchen.« Er lächelte, und Laila bemerkte, dass auch ihm ein Zahn fehlte. Er schaute auf seine Hände. »In der Tat.«
    Er hatte einen pakol auf dem Kopf, trug Wanderstiefel und einen schwarzen Wollpullover, den er unter den Bund der grauen Leinenhose gestopft hatte. Er deutete ein Lächeln an und nickte bedächtig. Laila konnte sich nicht erinnern, dass er früher so häufig »in der Tat« gesagt hätte; auch die nachdenkliche Art, mit der er die Fingerspitzen aneinanderlegte und nickte, erschien ihr neu an ihm. Ja, Tarik war jetzt erwachsen, ein fünfundzwanzigjähriger Mann mit langsamen Bewegungen und einem müden Lächeln, groß gewachsen, bärtig, schlanker als in ihren Träumen von ihm, aber mit kräftigen Händen, den Händen eines Arbeiters, auf denen sich pralle Venen abzeichneten. Sein Gesicht war immer noch schmal und hübsch, die Haut allerdings nicht mehr so hell. Die Sonne hatte ihm zugesetzt; Nacken, Stirn und Wangen waren dunkelbraun gebrannt wie bei einem Wanderer am Ende einer langen, beschwerlichen Reise. Sein pakol war nach hinten gerutscht, und sie sah, dass das Haar nicht mehr ganz so dicht war wie früher. Die haselnussbraunen Augen schienen an Glanz verloren zu haben, was aber auch am Licht im Wohnzimmer liegen mochte.
    Laila dachte an Tariks Mutter, an ihre Gelassenheit, das verschmitzte Lächeln und die stumpfe violette Perücke. Und an seinen Vater, der immer mit den Augen geblinzelt hatte, an seinen trockenen Humor. Vor der Tür hatte sie Tarik mit tränenerstickter Stimme und gestammelten Worten erklärt, was ihr über ihn und seine Eltern zu Ohren gekommen war, worauf er kopfschüttelnd geantwortet hatte, dass von alldem nichts wahr sei. Also fragte sie ihn jetzt, wie es seinen Eltern gehe, bereute aber sogleich, die Frage gestellt zu haben, denn Tarik blickte betreten zu Boden und sagte leise: »Sie sind gestorben.«
    »Das tut mir leid.«
    »Tja. Mir auch. Hier, sieh mal.« Er zog eine kleine Papiertüte aus der Tasche und gab sie ihr. »Mit herzlichen Grüßen von Alyona.« In der Tüte befand sich ein Käsestück, in Folie einwickelt.
    »Alyona. Ein hübscher Name.« Laila versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Deine Frau?«
    »Meine Ziege.« Er lächelte und sah sie erwartungsvoll an.
    Da erinnerte sie sich. Der russische Film. Alyona war die Tochter des Kapitäns gewesen, das Mädchen, das sich in den ersten Offizier verliebt hatte. Am Morgen vor dem gemeinsamen Kinobesuch hatten sie die sowjetischen Panzer und Jeeps aus Kabul abziehen sehen; Tarik trug damals diese groteske russische Pelzmütze auf dem Kopf.
    »Ich habe ihr ein Gehege gebaut«, sagte Tarik.

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