Tausend strahlende Sonnen
dreimal küssen, bevor Sajid ihn über ihre Köpfe hebt und sie darunter hindurch nach draußen gehen. Sajid hilft Tarik dabei, die beiden Koffer ins Auto zu schaffen. Er selbst chauffiert sie zur Haltestelle und winkt ihnen nach, als der Bus abfährt.
Als sich Laila im Sitz umdreht und Sajid im Ausschnitt der Heckscheibe verschwinden sieht, kommen ihr Zweifel. Sie fragt sich, ob es nicht doch töricht ist, Murree, diesen sicheren Ort, zu verlassen und dahin zurückzukehren, wo sich der Rauch der Bomben gerade erst legt?
Doch dann tauchen aus den dunklen Windungen ihrer Erinnerung zwei Gedichtzeilen auf, Babis Abschiedsode an Kabul:
Nicht zu zählen sind die Monde, die auf ihren Dächern schimmern,
noch die tausend strahlenden Sonnen, die verborgen hinter Mauern stecken .
Laila lehnt sich im Sitz zurück und zwinkert Tränen aus den Augen. Kabul wartet. Es braucht Hilfe. Nach Hause zurückzukehren ist richtig.
Aber zuerst muss an anderer Stelle Abschied genommen werden.
Die Kriege in Afghanistan haben die Straßen zwischen Kabul, Herat und Kandahar über weite Strecken verwüstet. Der beste Weg nach Herat führt heute über Mashad im Iran, wo Laila und ihre Familie die Nacht in einem Hotel verbringen. Am nächsten Morgen besteigen sie einen anderen Bus.
Mashad ist eine dicht bevölkerte, geschäftige Stadt. Vom Busfenster aus betrachtet Laila die Parks, Moscheen und Restaurants. Als sie am Heiligen Schrein von Imam Reza, dem achten Schia-Imam, vorbeikommen, reckt sie den Hals, um einen besseren Blick auf die glänzenden Fliesen, die Minarette und die prachtvolle goldene Kuppel zu erhaschen, die alle sorgfältig und liebevoll instand gehalten werden. Laila denkt an die Buddhas ihres Landes, die jetzt zu Staub zerfallen sind und vom Wind über das Tal von Bamiyan verstreut werden.
Fast zehn Stunden lang folgt der Bus der iranisch-afghanischen Grenze. Die Landschaft ist wüst und leer wie fast überall in Afghanistan. Bevor sie bei Herat die Grenze passieren, kommen sie an einem afghanischen Flüchtlingslager vorbei, einem Meer aus gelbem Staub, schwarzen Zelten und windschiefen Wellblechhütten. Laila greift nach Tariks Hand.
In Herat sind die meisten Straßen asphaltiert und von duftenden Kiefern gesäumt. Öffentliche Parks, neu gebaute und noch nicht ganz fertig gestellte Bibliotheken, gepflegte Höfe und frisch gestrichene Gebäude bilden eine ansprechende Kulisse. Die Verkehrsampeln funktionieren, und auf die Stromversorgung ist Verlass, was Laila am meisten überrascht. Sie hat davon gehört, dass Herats feudaler Kriegsherr Ismail Khan den Wiederaufbau der Stadt mit beträchtlichen Summen aus den Zolleinnahmen fördert, die er an der afghanisch-iranischen Grenze eintreibt, Geldern, von denen es in Kabul heißt, dass sie nicht ihm, sondern der Zentralregierung zustehen. Der Taxifahrer, der sie zum Hotel Muwaffaq bringt, spricht Ismail Khans Namen mit Hochachtung und Ehrfurcht aus.
Die beiden Nächte, die sie im Muwaffaq verbringen, kosten sie fast ein Fünftel ihres Ersparten, doch die Fahrt von Mashad war lang und ermüdend; die Kinder sind erschöpft. Der ältliche Portier, der ihnen an der Rezeption den Zimmerschlüssel überreicht, erklärt, dass das Muwaffaq bei internationalen Journalisten und NGO-Helfern sehr beliebt sei.
»Auch bin Laden hat hier einmal übernachtet«, prahlt er.
Das Zimmer hat zwei Betten und einen Waschraum mit fließend kaltem Wasser. Zwischen den Betten hängt ein Porträt des Dichters Khwaja Abdullah Ansari an der Wand. Vom Fenster aus blickt Laila über die verkehrsreiche Straße hinweg auf einen Park mit pastellfarbenen gepflasterten Pfaden und bunten Blumenbeeten. Die Kinder sind enttäuscht, dass es keinen Fernsehapparat im Zimmer gibt. Doch sie sind schon bald eingeschlafen, ebenso Tarik und Laila. Laila schläft tief und fest in Tariks Armen. Mitten in der Nacht schreckt sie aus einem Traum auf, an den sie sich aber nicht erinnern kann.
Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück mit Tee und frischem Brot, Quittenmarmelade und gekochten Eiern, bestellt Tarik für Laila ein Taxi.
»Soll ich nicht doch mitkommen?«, fragt er. Laila hält ihn bei der Hand. Zalmai steht neben Tarik und lehnt mit der Schulter an seiner Hüfte.
»Wirklich nicht.«
»Ich mache mir Sorgen.«
»Es wird mir schon nichts passieren«, erwidert sie. »Geh mit den Kindern auf einen Markt und kauf ihnen was Schönes.«
Zalmai fängt zu weinen an, als das Taxi abfährt. Laila schaut zurück und
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