Terra Anchronos (German Edition)
beiden Linien springst?“
„Einen größeren Blödsinn habe ich noch nie gehört.“ Marthas Stimme klang fast hysterisch. Die Angst vor der falschen Entscheidung brannte in ihr wie ein loderndes Feuer.
„Entweder am 180. Längengrad oder an der Datumsgrenze“, sagte sie dann entschlossen. „Auf keinen Fal in der Mitte.“
„Soll ich lieber meinen Vater fragen?“
„Das tust du auf keinen Fall. Es ist mein Leben und ich werde jetzt die Verantwortung dafür übernehmen.“
Arne wagte nichts mehr zu sagen. Schweigend und ratlos hockte er da und hörte Martha zu, die begonnen hatte, laut zu denken.
„Immer ist die Datumsgrenze auch der 180. Längengrad. Warum nur weicht sie in der Südsee plötzlich ab?“
Martha beugte sich dicht über die Karte und betrachtete sie ganz genau.
„Stell dir vor“, sagte sie nach einer Weile und richtete sich auf, „Deutschland würde in der Mitte von einer Zeitzone zerschnitten. Was wäre dann?“
Als Arne nichts sagte, gab sie selbst die Antwort.
„Dann hätte Deutschland zwei verschiedene Uhrzeiten. Das kann doch nicht sein.“
Arne nickte. Das konnte auch er sich nicht vorstel en.
„Also würde man etwas tun, um das zu vermeiden.
Richtig?“
Martha achtete gar nicht mehr auf Arne. Eine Antwort hatte sie auf ihre Frage auch nicht erwartet, denn sie kombinierte sofort weiter.
„Die Zeitzone müsste dann so gelegt werden, dass kein Land geteilt wird. Das geht natürlich nur, wenn in Kauf genommen wird, dass Längengrad und Zeitzone voneinander abweichen. So ist es auch hier in der Südsee. Schau die vielen kleinen Inseln an. Sie liegen weit verstreut im Meer und gehören doch zusammen. Arne!“, sagte Martha und legte alle ihr zur Verfügung stehende Überzeugung in die Worte.
„Die Datumsgrenze in der Südsee ist vom Menschen verlegt worden. Die echte Grenze muss aber doch der 180. Längengrad sein.“
Zwei Tage später wurde das Datum an Bord um einen Tag vorausgestel t. Es war ein merkwürdiges Gefühl für die Kinder, denn sie wussten ja nicht mit absoluter Sicherheit, ob Marthas Überlegungen richtig waren. Sorgenvoll stand Arne auf der Kommandobrücke neben seinem Vater und betrachtete die hinter ihnen liegende See. War für Martha die Gelegenheit, die Terra anchronos zu betreten, schon verstrichen? Arne biss sich auf die Lippen und hoffte inständig, dass seine Freundin recht behalten sollte.
„Du musst mir versprechen, genau auf dem 180. Längengrad ein lautes Signal mit dem Typhon zu geben. Nicht kurz vorher und auch nicht später. Ganz genau musst du es nehmen.“
Der Kapitän lächelte seinen Sohn an. „Warum denn das“, fragte er. „Glaubst du, man könnte auf dem Wasser etwas sehen?“
„So ungefähr“ murmelte Arne. „Wann ist es denn so weit?“ Der Kapitän ging an den Kartentisch und stellte einige Berechnungen an.
„Morgen Nacht gegen elf Uhr“, sagte er.
„Du hupst ganz bestimmt?“
„Versprochen. Ehrenwort, mein Junge.“
Kurz vor der genannten Stunde schlichen Arne und Martha an Deck. Sie waren kaum in der Lage zu sprechen, so sehr machten ihnen der Abschied und die Ungewissheit zu schaffen.
„Leb’ wohl“, sagte Martha leise und nahm Arne, ihren Freund, fest in den Arm. Es kam dem Jungen vor, als wolle das Mädchen ihn nie wieder loslassen.
„Du auch“, flüsterte Arne. Er machte sich aus der Umarmung frei und sah Martha an. Tränen standen in seinen Augen. So viel hatte er noch zu sagen, brachte aber keinen Ton mehr heraus.
Er nahm Marthas Hand und beide Kinder stellten sich an die Pforte in der Reling, die Arne schon vorsorglich geöffnet hatte. Gerade wollte er Martha noch einmal in den Arm nehmen, da erklang das versprochene Signal des Vaters. Laut und dröhnend verkündete das Typhon die Überquerung des 180. Längengrades.
„Jetzt!“, rief Arne, drückte schnell noch einmal Marthas Hand und gab ihr einen sanften Stoß.
Martha hatte noch nicht die Wasseroberfläche erreicht, da sprang auch Arne.
Die Befragung
Als Arnes Füße die Wasseroberfläche erreichten, dachte er einen kurzen Moment lang, dass seine letzte Stunde angebrochen sei. Doch sein Zweifel an der Existenz des Lochs in der Zeit wurden augenblicklich zerstreut. Statt nasse Füße zu bekommen, fiel er in einen Strudel, dessen unwiderstehlicher Sog den Jungen in die Tiefe zog. In atemberaubend schneller Fahrt rutschte Arne durch eine Röhre, deren Durchmesser immer schmaler wurde. Zu Beginn hatte er noch gelegentlich einen Blick auf
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