Terra Anchronos (German Edition)
Laute einer Schlange? Arne blieb stehen. Ein leises Zischen kam immer näher. Was war das? Befand sich eine Vipera archimedensis direkt vor ihm? Das konnte doch nicht sein. Martha hatte gesagt, die Tiere würden nur am 29. Februar freigelassen. Nur wenn die Faulkammer unter der Nordsee sich hob und die Wasseroberfläche durchbrach. War es denn schon wieder so weit? Er war doch eben erst über die Datumsgrenze gesprungen. Arne verfluchte still die Zeitlosigkeit der Terra anchronos.
Das Zischen wurde lauter und Arne war davon überzeugt, dass es sich nur um eine Vipera archime densis handeln konnte, die ihm in dem engen Gang entgegenkam. Fieberhaft suchte er nach einem Versteck, einer winzigen Nische im Fels, in die er sich drücken konnte. Seine Hände tasteten die Wände ab.
Aber er fand nur glatte Flächen, die sich wie poliert anfühlten. Der einzige Ausweg war der Rückzug. Gerade hatte Arne den Entschluss gefasst, da richtete sich ein Wesen vor ihm auf, wie er noch keines im Leben gesehen hatte. Sofort wurde ihm klar, dass er mit seiner Ahnung richtig gelegen hatte. Es war die erste Vipera archimedensis, die Arne zu sehen bekam. Gleichwohl erkannte er sie aber sofort. Der geschraubte Körper lag lang gestreckt in dem dunklen Gang. Nur der vordere Teil mit dem Kopf war aufgerichtet. Tatsächlich sah das Tier mit seinem gewundenen Körper aus wie eine archimedische Schraube. Die um den Körper herum verlaufende Spirale schien ständig in wellenförmiger Bewegung, obwohl der eigentliche Leib des Tieres reglos in die Höhe ragte. Arne blieb stocksteif stehen.
Martha hatte ihm gesagt, dass die Vipera archimedensis völlig harmlos sei. Sie fresse nur Seegras oder gegorene Wurzeln. Auch giftig sei das Tier nicht. Das waren aber alles Dinge, die Arne im Angesicht der Schlange nicht beruhigen konnten. Die gespaltene Zunge fuhr dicht an seinem Gesicht vorbei. Arne hielt den Atem an. Dem Maul des Tieres entströmte ein Gestank, der an faule Eier erinnerte. Die Augen der Vipera archimedensis, in die Arne nur aus wenigen Zentimetern Entfernung blickte, waren kreisrund. Verwirrt suchte Arne nach Pupillen, wenigstens schmalen Schlitzen, die eine Verwandtschaft zu Schlangen auf der Erde gezeigt hätten. Er sah aber nur ein grelles Weiß, das gelegentlich von einer roten Ader durchzogen war. Ihn schauderte bei dem Anblick. Solche Augen hatte er schon einmal gesehen.
Plötzlich ließ die Vipera archimedensis ihren Körper sinken und schlängelte sich mit merkwürdigen Bewegungen an Arne vorbei. Noch sah er der ständigen Drehung um die eigene Achse zu, mit der sich das Tier fortbewegte, als er die Schritte hörte. Die Augen des Jungen hatten sich inzwischen gut an die Dunkelheit des Ganges gewöhnt. Wo war die Vipera archimedensis geblieben? Noch müsste er sie sehen können. Aber sie war eindeutig fort. Stattdessen sah er einen Mann, dessen Stirn von den gelben Zähnen eines Eisbärenmauls gesäumt war. Im gleichen Augenblick hörte Arne dieses furchterregende Lachen, das ihm nur zu gut in Erinnerung geblieben war. Er ließ al e Vorsicht fahren und rannte so schnel er konnte zum Ende des Ganges. Als er sich umsah, blickte er nur in tiefe Dunkelheit.
Vor ihm öffnete sich die Kuppel der Versammlungshalle. Im Schatten des Ganges lauschte er nach Geräuschen, konnte aber weder etwas hören noch einen der Subtektonen entdecken. Ganz langsam tastete sich Arne in die Halle vor. So verlassen, wie er sie nun sah, wirkte sie noch größer und imposanter als bei seinem ersten Besuch. Die mächtigen Felswände ragten hoch auf und Arne fragte sich, wie eine Vipera archimedensis es wohl schaffte, ihren Körper in einen solchen Stein zu bohren. Zwar hatte er das Tier nicht angefasst, das ihm eben noch begegnet war. Es hatte aber ausgesehen, als ob der schraubenförmige Leib sich weich anfühlen müsste. Wo waren die Schlangen überhaupt eingesperrt und gab es auch für sie keine Zeit? Lebten sie ewig, wie die Subtektonen?
Solche und ähnliche Fragen schossen Arne durch den Kopf, als er in der beeindruckenden Halle stand.
Seine Aufmerksamkeit litt jedoch keineswegs unter der Grübelei. Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte der Junge eine kreisrunde Felsscheibe, die leicht schräg an der Wand gelehnt stand. Neugierig ging er einige Schritte darauf zu und erkannte bald regelmäßig in den Stein gemeißelte Striche. Immer vier senkrecht nebeneinander, die von einem diagonalen Strich zusammengefasst wurden. Die Art des Zählens kannte
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