Der sueße Kuss der Luege
Prolog
Sie stand mit dem Beil in der Dunkelheit und wusste nicht mehr, warum sie es in der Hand hielt. Schwarzes Schweigen umgab sie, drang ein in ihren Schädel und vermischte sich mit Fragen, die wie Blitze die stumme Finsternis erhellten. Wie war sie hierhergekommen? Warum? Sie zog die ausgeleierte Strickjacke fester um ihren dünnen Körper und versuchte verzweifelt, sich zu erinnern, als ein ersticktes Wimmern an ihre Ohren drang.
Da wusste sie es plötzlich wieder und lächelte erleichtert. Ja doch, fiel ihr ein, natürlich, sie war im Bunker, hier war sie sicher, allerdings war ihr kalt, besonders das da unten. Sie sah an sich herunter, entdeckte die hellen Flecken im Dunklen und nickte. Ja, das kannte sie, das waren ihre Füße. Wie zur Bestätigung bewegte sie die Zehen in den abgeschabten Pantoffeln. Wegen des Alarms hatte sie sich beeilt. Aber wo war Georg? Er würde sie niemals allein lassen in so einem dunklen Loch. Sie schniefte, als ihr klar wurde, dass er weg war. Auch in so einem Loch, einem anderen Loch, eins in der Erde, er war tot.
Und sie musste es hier auch ohne Licht aushalten, das war sicherer. Die könnten sie finden. Ruhig sein, am besten keinen Laut von sich geben und sich verstecken.
Doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Etwas irritierte sie. Ein Geräusch. Ein Wimmern. Sie blickte sich um, versuchte, etwas zu erkennen.
Es kam von dort hinten aus dem Schrank. Ein großer Schrank. Wimmern war gefährlich. Sie machten kurzen Prozess mit denen, die jammerten.
Sie bekam eine Gänsehaut. »Schau, Georg, wie sich die Haare auf meinen Armen aufstellen«, flüsterte sie und griff sich dann mit der freien Hand kokett in die filzigen niveaweißen Haare, durch die ihre Kopfhaut rosa schimmerte. »Du hast mir verboten, sie abzuschneiden, und dein Gesicht jede Nacht darin gebadet. Seidenkissen hast du sie genannt. Seidenkissen«, murmelte sie, schlurfte mit dem Beil in der Hand zum Schrank und rüttelte an der Tür.
Abgeschlossen. Verboten. Doch das Wimmern machte ihr Angst, es war nicht richtig, dagegen musste sie etwas tun, sonst fänden die sie noch. Sie schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, aber das Wimmern hörte nicht auf.
Aufbrechen.
Das Beil. Sie hatte ja das Beil. Sie betrachtete es für eine Weile. Was hatte sie getan? Sie schüttelte den Kopf und hob drohend ihren Zeigefinger. »Das war schlimm. Du warst ein böses Mädchen, oh ja, ein sehr, sehr böses Mädchen.«
Sie seufzte. Nein, sie war nicht nur ein böses Mädchen gewesen. Das mit den Hühnern hatte sie immer sauber erledigt. Ein gutes Mädchen. Ein einziger gezielter Hieb und der Kopf war ab. Georg und die Kinder und sogar der kleine Jan liebten ihre Brathähnchen und das Hühnerfrikassee.
Was wollte sie noch mit dem Beil? Das Huhn. Sie hörte sein Wimmern und lächelte, ja doch, hier im Schrank, da hatte sich das Huhn versteckt.
Sie legte auch ihre andere Hand um das Beil, hob ihre dünnen Arme und hieb gegen die Schranktür. Krachend zerbarst das Holz.
Das Wimmern wurde lauter. Als sie sich vorlehnte, um in das kleine Loch zu spähen, fiel ihr das Beil aus der Hand.
»Oh mein Gott!«, rief sie entsetzt. »Meine kleine süße Maria, was machst du denn hier drin? Mein Schatz. Bitte, bitte hör auf zu weinen. Sonst finden die uns und dann nehmen die uns mit.«
Sie brach mit den Händen weiter hastig Holzteile weg, um das Kind aus dem Schrank zu befreien, ohne zu bemerken, dass sich die Holzsplitter in ihre verkrümmten Finger bohrten und sie anfingen zu bluten.
»Bitte beruhige dich. Schschsch. Mama ist gleich bei dir. Warum bist du verschnürt wie ein Geschenk und wo ist das rosa Kleidchen, das ich dir gestrickt habe? Warum bist du so schmutzig?«
Die Kleine schielte ängstlich zu der Alten, wurde schockstarr und schloss ihre Augen. Als das Loch groß genug war, beugte sich die Frau zu dem Kind, zog es heraus und nahm es mit einem Ächzen auf ihren Arm. Sie bemerkte das Taschentuch im Mund des Mädchens und zog es heraus, aber das Mädchen rührte sich nicht.
»Ich bin jetzt da, beruhige dich, meine Kleine.« Die Frau küsste es zart auf die Stirn und begann, das Kind zu schaukeln, sachte hin und her. Dabei schüttelte sie den Kopf und murmelte beschwörend auf die Kleine ein. »Du bist sehr schmutzig. Ich muss dich waschen, Maria, und zu essen brauchst du bestimmt auch. Keine Angst, Mama sorgt für dich. Aber zuerst müssen wir diese Schnüre an deinem Körper abmachen, so kannst du ja nicht
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