Tesarenland (German Edition)
und trage sie in unser gemeinsames Bett. Mutters Bett habe ich zerlegt. Es war aus Holz und hat uns in diesem Winter einige Stunden Wärme geschenkt. Ihre Matratze habe ich getauscht. Von Mutters Besitz ist kaum noch etwas da. Nur das kleine Kästchen, in dem sie eine Strähne von Vaters hellrotem Haar aufbewahrt hat, habe ich nicht anrühren können. Sie hat es ihm damals abgeschnitten, als er mit Lungenentzündung im Bett lag. Wenige Stunden, bevor der Tod ihn sich geholt hat. Ich kuschele mich an Kayla und beobachte, wie das Feuer im Ofen langsam erlischt.
Am Morgen sage ich Kayla, dass sie die Hütte nicht verlassen soll. Ich habe Angst um sie. In den letzten Tagen hat es häufiger Unruhen in der Kolonie gegeben. Die schlechte Stimmung ist fast greifbar. Es fühlt sich an, als würde die Luft knistern. Nicht mehr lange, dann können auch die Waffen der Aufseher den Menschen hier nicht mehr genug Furcht einflößen. Die Angst vor dem Hungertod wird sie zu Dingen treiben, die sie eigentlich nicht tun wollen. Bevor ich hinausgehe, bete ich zu Mutter, sie möge dafür sorgen, dass die Tesare Nahrungsmittel schicken. Seit Mutter fort ist, spreche ich oft zu ihr. Ich weiß, sie hört mich, sie ist immer bei uns. Ich kann ihre Nähe spüren. Da ist manchmal dieses Gefühl von Wärme und der Duft ihrer Haare, der durch unsere Hütte weht. Das Wissen, dass sie da ist, gibt mir wieder Kraft.
In der Nacht sind die Wege gefroren. Der Frost beißt mir in Wangen und Nase. Die Ärmel meines Baumwollpullovers ziehe ich über die Finger, um die eisige Luft fernzuhalten. Ich rutsche ein paar Mal aus und lande auf meinem Hintern. Meine Schuhe, mit ihren abgelaufenen glatten Sohlen, sind nicht für den Winter geeignet, aber andere habe ich nicht.
Die meisten Einwohner schlafen noch. Ich will so früh wie möglich an der Grenze sein. In unserem Teil des Waldes, dem Stück, das innerhalb des Lichtzauns liegt, gibt es schon lange keine Tiere mehr. Sie wurden gejagt, als Nahrung immer seltener wurde. Manchmal haben wir Glück und ein Tier hat versucht, von draußen hereinzukommen. Sie sehen den Lichtzaun nicht. Wir können ihn auch nicht sehen. Er ist eine unsichtbare Energiebarriere, die uns innerhalb der Kolonie einschließt. Wir wissen nur, dass er da ist. Wenn ein Tier versucht hat, die Grenze zu überschreiten, dann liegen seine verkohlten Überreste nahe am Zaun. Liegen sie auf unserer Seite, dann hat man mit etwas Glück, für ein paar Tage Fleisch. Nur die großen Tiere verbrennen nicht vollständig im Zaun. Ein Vogel geht sofort in Flammen auf und es bleibt nichts zurück.
Es ist gefährlich, sich in der Nähe des Zauns aufzuhalten. Was man nicht sieht, kann man schlecht meiden. Aber um im hohen Schnee etwas zu finden, muss man so nahe wie möglich an den Energiezaun heran. Ich taste mich vorsichtig vorwärts. Im Dunkeln kann ich Unebenheiten nicht gut sehen. Ich habe Angst , zu stolpern und durch die Energiewand zu stürzen. Unterwegs habe ich eine Handvoll Steine in meinen Eimer gesammelt. Die werfe ich alle paar Schritte in den Zaun. Wenn etwas die Lichtfelder berührt, leuchten sie kurz auf. Die Steine helfen mir nicht nur einzuschätzen, wo die Grenze sich befindet, sie erhellen auch den Weg vor mir.
Ich habe den Wald fast zur Hälfte umrundet, als ich einen dunklen Schatten im Schnee hocken sehe. Jemand ist vor mir hier. Ob er etwas gefunden hat? Ich hoffe, wer auch immer da hockt, ist bereit zu teilen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nähern soll. In diesen Tagen könnte jeder Gefahr bedeuten, der befürchtet, man wolle ihm von dem Wenigen, was es gibt, etwas nehmen. Ich schlucke schwer und zögere, bevor ich mich langsam nähere. Ich bin enttäuscht, weil jemand vor mir hier ist, aber vielleicht habe ich Glück. Einige Kolonisten haben Mitleid mit Elternlosen. So nennen sie hier die Kinder, deren Mütter und Väter tot oder geholt worden sind. Aber auf dieses Mitleid können wir immer seltener hoffen. Nicht in diesen Zeiten.
Die Gestalt wendet sich zu mir um , als der Schnee unter meinen Füßen knarrt. Ich bleibe stehen, werfe einen Stein. Der Zaun blitzt auf und taucht die Gestalt in Licht. Es ist Luca, der Junge, der mir geholfen hat, Kayla festzuhalten, als sie Mutter geholt haben. Seither haben wir manchmal ein paar Worte gewechselt. Es scheint fast so, als habe er das Gefühl, er habe jetzt, da er Kayla vor dem Tod gerettet hat, die Verantwortung für sie. Jedenfalls fragt er ständig, wie es ihr geht.
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