Tessy 02: Tessy und die Lust des Mörders
an, kaum dass sie sich gesetzt hatten. "Rhea hat so was noch nie getan – mit einem schlichten Handygruß einfach spurlos verschwinden und für niemanden erreichbar sein. Wir sind davon überzeugt, dass etwas geschehen ist, aber wir können es nicht beweisen."
Der Mittfünfziger hatte volles graumeliertes Haar und war sportlich schlank. Unter normalen Umständen kommt der Mann garantiert dynamisch, attraktiv und sympathisch rüber, dachte Tessy. Aber jetzt wirkte Kossner nervös und zermürbt. Tiefe Furchen hatten sich unter seinen Augen eingegraben. Er blickte von der Detektivin hinüber zu seiner Gattin, einer kleinen, ein wenig fülligen, aber auffällig gut geschminkten und modisch gekleideten Frau mit großen dunklen Augen und kastanienrotem Haar, die Tessy einige Jahre jünger einschätzte.
Annegret Kossner bemühte sich um Haltung. Sie nickte ihrem Mann zu und schlug ein Bein über das andere. "Nein, das ist einfach nicht ihre Art."
Tessy lehnte sich in den Sessel zurück. "Wie lautet denn dieser schlichte Gruß?"
Stefan Kossner war gut vorbereitet. Er öffnete einen auf dem Tisch bereitliegenden Hefter und zog einen Zettel heraus, um ihn Tessy zu reichen.
"Sie hat uns und ihrem Freund Paul, mit dem sie einige Tage zuvor einen Streit hatte, diese SMS geschickt – mit absolut identischem Wortlaut", erklärte er.
Tessy beugte sich über das Blatt. ‚Ich brauche eine Auszeit’, las sie stumm. ‚Muss über Paul und mich nachdenken und über das, was wichtig in meinem Leben ist. Lasst mir bitte Zeit. Rhea.’
Tessy las den Text mehrmals und blickte schließlich wieder hoch. "Sie hat genau diese Worte auch ihrem Freund Paul geschickt?"
"Ja", antwortete Annegret Kossner. "Die Nachrichten wurden auch zum gleichen Zeitpunkt abgeschickt."
Tessy runzelte die Stirn. "Sie hat sich also noch nicht mal die Mühe gemacht, ihren Freund persönlich anzusprechen?"
Stefan Kossner nickte eifrig. "Ja, merkwürdig, nicht wahr? So viel Zeit würde man sich doch nehmen, die Mitteilung entsprechend umzuformulieren."
Allerdings, dachte Tessy. Es sei denn, die beiden hätten sich richtig derbe in der Wolle gehabt und Rhea wäre es schnurzegal gewesen, wie Paul ihre SMS auffasste.
"Worum ging es denn bei diesem Streit?", hakte sie nach.
"Rhea hat uns keine Einzelheiten erzählt", erwiderte die Mutter. "In der Beziehung hat es hin und wieder mal gekracht – wie in fast jeder anderen auch. Das ist wohl nicht ungewöhnlich." Sie zog kurz die Schultern hoch. "Wir vermuten, dass die Auseinandersetzung mit Pauls Wunsch zusammenhing, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen."
"Haben die beiden schon immer getrennt gewohnt?"
Stefan nickte. "Ja. Rhea wollte zunächst ihr Studium beenden – sie studiert Mediendesign an der Hochschule der populären Künste – und so lange alleine wohnen. Paul hat inzwischen einen guten Job als Chemiker und ist der Meinung, dass man nach zwei Jahren Beziehung ruhig anfangen könnte, Nägel mit Köpfen zu machen: zusammenziehen, heiraten, später dann Kinder."
Tessy stöhnte innerlich auf. Dass Rhea ganz offensichtlich eigene Vorstellungen von der Lebensplanung hatte, konnte Tessy gut nachvollziehen, und es machte ihr die junge Frau auf Anhieb sympathisch.
"Ich entnehme Ihren Worten, dass dieses Thema ein grundsätzlicher Konflikt zwischen den beiden war."
"Ja, seit ungefähr einem halben Jahr diskutieren sie häufig darüber", stimmte Stefan zu.
"Diskutieren oder streiten?"
"Gute Frage. Ich schätze – beides. Paul ist enttäuscht, dass Rhea sich Zeit lassen will."
"Hm. Und sonst? Haben Sie den Eindruck, dass die beiden ein harmonisches Paar sind?"
"Unbedingt", erwiderte Annegret sofort. "Bei ihnen stimmt eigentlich alles. Sie haben gemeinsame Interessen und Freunde, lassen sich aber auch Freiräume …"
Vielleicht definieren sie den Begriff ‚Freiräume’ inzwischen unterschiedlich, dachte Tessy. Sie war ziemlich gespannt, wie Paul die Situation beschreiben würde.
"Was schätzen Sie – wird Paul bereit sein, mit mir zu reden?", wandte sie sich an Stefan Kossner.
"Und ob!", meinte der prompt. "Auch er ist unbedingt dafür, private Ermittlungen aufzunehmen, und ich habe ihn bereits darüber informiert, dass wir mit Ihnen sprechen. Wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er gleich dazu gekommen. Aber er musste in den Job."
"Kann ich ihn dort erreichen?"
"Natürlich."
"Gut,
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