Blutheide
Prolog: Sonntag, 01. Mai 2011
03.11 Uhr
Er schreckte aus dem Schlaf hoch. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, doch jetzt hörte er nichts mehr, nur den gedämpften Verkehrslärm, der von draußen durch die Mauer und die Fenster direkt an sein Ohr drang, und an den er sich schon lang gewöhnt hatte. Er fühlte sich nicht gut. Seine Glieder schmerzten, und ihm war heiß. Sicher hatte er wieder Fieber. Das hatte er immer, wenn er gerade einen Fall gelöst hatte. In der Regel verschwand es so schnell, wie es gekommen war.
Langsam setzte er sich auf und zog sich das durchgeschwitzte Unterhemd über den Kopf. Die kleine Leselampe auf dem Nachttisch brannte noch immer. Er blickte sich in seinem Schlafzimmer um: Das Album, über dessen Seiten er vorhin zufrieden eingeschlafen war, war zu Boden gefallen. Sicher hatte dies das Geräusch verursacht, das ihn aus seinem Traum gerissen hatte. Er wusste, dass er geträumt hatte, nur bekam er nicht mehr in seinen Kopf zusammen, was es gewesen war.
Er beugte sich über die Bettkante und griff nach dem schlicht-schwarzen Album, legte es vor sich und schlug es auf. Die erste Seite hatte er freigelassen. Wer weiß, wozu sie noch gut sein konnte. Dann blätterte er langsam weiter. Mit zärtlichem Blick begutachtete er die Seiten, auf denen sich eingeklebte Zeitungsausschnitte und Fotos abwechselten. Als wäre das Album so kostbar und zerbrechlich wie eine Mingvase, wendete er jedes einzelne Blatt bis zum letzten, auf dem etwas eingeklebt war. Es waren die Fotos vom Tatort zu seinem gerade erfolgreich abgewickelten Mordfall. Später würde er noch die Artikel hinzufügen, die sicher in den nächsten Tagen in der Zeitung erscheinen würden. Wie die anderen im Album akribisch dokumentierten Fälle hatte er auch diesen mit Bravour gelöst. Stolz schwappte in ihm hoch.
Mit einem Seufzer klappte er das Album zu und legte es auf den Nachttisch. Bald würde es voll sein. Er schaltete die Leselampe aus und versuchte wieder einzuschlafen, was ihm nach kurzer Zeit gelang. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
(Rainer Maria Rilke)
Kapitel 1: Sonntag, 01. Mai 2011
17.43 Uhr
Es war Sonntag, ein recht sonniger noch dazu, doch Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch, anstatt seinen freien Tag im Garten zu verbringen, wie vermutlich die meisten seiner Kollegen. Hier konnte er die Ruhe genießen. Zu Hause konnte er das nicht. Er hielt es einfach nie lang aus in seinem schmucken Einfamilienhaus am Stadtrand, und so sammelten sich langsam aber sicher die Überstunden auf seinem Arbeitskonto an. Auch wenn es inzwischen fast zwei Jahre her war, dass seine Frau ihn verlassen hatte, und es ihm ansonsten endlich wieder einigermaßen gut ging – das Zuhause-Gefühl war gemeinsam mit Simone bei ihrem Auszug verschwunden und hatte sich nicht wieder eingestellt. Loslassen konnte er aber auch nicht. Seine Freunde hatten es inzwischen aufgegeben, ihn zu einem Umzug in eine neue Wohnung bewegen zu wollen, die frei von Erinnerungen war. Irgendwann waren es einfach auch die geduldigsten Seelen leid, ständig gegen eine Wand zu reden.
Der Kriminalhauptkommissar hatte eine geöffnete Akte vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Die Personalakte seiner neuen Kollegin. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er das Foto der jungen Kommissarin. Eigentlich hatte er sich einen männlichen Kollegen als Verstärkung gewünscht. Obwohl er noch nie mit einer Frau im Team gearbeitet hatte – oder vielleicht gerade deshalb – hatte er Bedenken. Genau benennen konnte er sie jedoch nicht und so hatte er auch keine Argumente vorbringen können, als sein Chef Stephan Mausner ihm mitgeteilt hatte, wen er für den offenen Posten ausgewählt hatte. Und gegen die Fakten in ihrem Lebenslauf gab es definitiv keine Argumente. Damit waren die wenigen Mitbewerber schnell aus dem Rennen, und Rehder hatte nun eine Frau in seinem Team.
Er war kein Mensch, der sich gern auf etwas Neues einließ. Am liebsten war es ihm, wenn alles seinen eingefahrenen Weg lief. Der Job selbst brachte schon genug Überraschungen mit sich, fand er. Dass es
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