Teufelsengel
Weitere zwanzig Minuten habe ich mich über die Aachener Straße gequält. Ich hätte daran denken können, dass der Feierabendverkehr am Freitag schon kurz nach Mittag anfängt.
Ich bin auf dem Weg zum Kloster. Ursprünglich fand ich meinen Plan, unangemeldet dort aufzutauchen, grandios. Jetzt kommen mir Bedenken. Was, wenn ich Bruder Arno nicht finde? Wie soll ich einem Mitbruder meinen Besuch begründen?
Und was, wenn ich ihn finde?
Bruder Arno war mit der Kamera unterwegs. Nur beim Fotografieren konnte er loslassen. Wenn er sich auf die Motive konzentrierte, hörten die quälenden Gedanken in seinem Kopf auf, einander zu jagen.
Mit Mühe hatte er sich selbst davon abgehalten, wieder nach Dünnwald zu fahren.
Angestrengt hatte er auch jeden Gedanken an Pia verdrängt.
Und doch hatte er gewusst, dass es wieder geschah. Vielleicht gerade jetzt, während er durch die Eifeldörfer fuhr, um Stoff für seine geplante Fotoreportage zu finden.
Aber damit wollte er sich jetzt nicht belasten. Er hatte zu tun. Er konnte sich Skrupel nicht leisten.
Alt und jung war das Thema, das er sich ausgesucht hatte, und sein Kopf war schon voller Ideen. Abnehmer für seine Arbeiten hatte er mehr als genug. Er würde der Zeitschrift den Zuschlag geben, die ihm am meisten zahlte.
Sie brauchten Geld. Es gab so viele Projekte, die sie unterstützten. Die Obdachlosenhilfe. Einrichtungen für Drogenabhängige. Die Kölner Tafel. Außerdem verschlangen die denkmalgeschützten Klostermauern Unsummen. Jede Renovierungsarbeit kostete dreimal so viel wie üblich, weil man sich bei allem an strenge Auflagen halten musste.
Ohne Geld war man nichts.
Ohne Geld kein Einfluss. Ohne Einfluss keine Macht.
Noch war die Gemeinschaft nicht unantastbar. Es gab eine Reihe von Leuten, die jede Möglichkeit nutzten, um ihnen ans Bein zu pinkeln.
Vero duldete keine Kompromisse. Er legte sich, wenn er es für richtig hielt, mit jedem an. Das hatte ihre Sache Sympathien gekostet.
Auch die Kirche war in letzter Zeit unmerklich auf Distanz gegangen. Veros Konzept war ihr zu aggressiv. Zu radikal. Gleichzeitig versuchte Rom, die Gemeinschaft einzubinden. Sie war schon zu groß geworden und die Bruderschaft zu stark. Der Vatikan konnte sie weder ignorieren, noch konnte er es sich leisten, eine Abspaltung zu riskieren.
In Monschau stellte Bruder Arno den Wagen ab und schlenderte die lange, kopfsteingepflasterte Straße hinunter, die ins Zentrum führte. Es waren nicht so viele Touristen unterwegs wie an den Wochenenden, und das schlechte Wetter hatte wohl auch den einen oder anderen Wanderer abgeschreckt, aber es herrschte immer noch reger Betrieb in dem kleinen Ort.
Bruder Arno entschied sich für ein Café am Markt und bestellte sich zwei belegte Brötchen und ein Kännchen Kaffee. Während er aß, ließ er das Gemurmel der übrigen Gäste an sich vorüberziehen, ohne darauf zu achten. Dann und wann drang ein einzelnes Wort in sein Bewusstsein und verschwand sofort wieder daraus.
Sallys Gesicht tauchte vor ihm auf. Lachend. Unbeschwert. So jung.
Doch als Vero mit ihr fertig gewesen war, hatte man das Mädchen kaum wiedererkannt. Bis auf die Knochen abgemagert, die riesigen Augen tief eingesunken, hatte sie einen angeschaut mit einem Blick, der alles Leid gesehen hatte.
Manchmal hatte sie noch zu lächeln versucht, doch sie hatte ihrem eigenen Lächeln nicht mehr getraut.
Die kleine Sally.
Zum Schluss hatte sie nur noch grobe, obszöne Beleidigungen ausgestoßen und Vero ins Gesicht gespuckt.
Sally.
Sie war nicht die erste gewesen.
Aber sie war die erste gewesen, bei der er Zeuge geworden war.
Und an der er sich selbst die Hände schmutzig gemacht hatte.
Nein, hatte Vero ihm vehement widersprochen. Wir haben ihre Seele gerettet.
In Wirklichkeit waren sie an diesem Mädchen gescheitert. Sally war zu stark gewesen. Sie hatte sich Veros Kraft nicht gebeugt, ebenso wenig wie der Kraft seiner Gebete.
Nicht Sally war stark, hörte er Veros Stimme in seinem Kopf. Es war die Stärke des Dämons, die wir gespürt haben.
Ein einziger Dämon war es gewesen, der Sallys Körper und Geist besetzt hatte. Trotz aller Aufforderungen und aller Drohungen hatte er ihnen seinen Namen nicht genannt.
Vero hatte vermutet, es sei Luzifer selbst gewesen.
Es hatte Ruhephasen gegeben, in denen der Dämon sich zurückgezogen zu haben schien. Da war Sally wieder zu dem Mädchen von früher geworden.
Oder doch beinah.
In ihren Augen war jetzt etwas Dunkles,
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