Teufelsengel
Abgründiges gewesen, das Bruder Arno zuvor dort nicht bemerkt hatte.
Bruder Arno war Skeptiker. Seine Brüder wussten das und hatten es akzeptiert. Es gab jedoch Grenzen, die keiner von ihnen überschreiten durfte, Grenzen, die Skepsis zum Verrat an der Sache machten.
Sally hatte ihn über diese Grenze gestoßen.
Er hatte angefangen zu zweifeln.
Schon in der Bibel war von Exorzismen die Rede. Jesus gab seinen Jüngern die Vollmacht, die unreinen Geister auszutreiben. Er forderte sie ausdrücklich dazu auf.
Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!
Jesus selbst war Exorzist gewesen, darauf berief Vero sich immer wieder. Er hatte einen Stummen geheilt, indem er ihn von einem Dämon befreite, er hatte sieben Dämonen aus Maria aus Magdala ausgetrieben.
Also taten die offiziell ausgebildeten Exorzisten der katholischen Kirsche nichts weiter, als Jesu Werk fortzuführen. So jedenfalls sah Vero das. Mehrere Hundert Exorzisten wirkten allein in Italien. Und der Papst hatte angekündigt, dreitausend weitere ausbilden zu lassen.
Exorzismus war kein totes Ritual. Er wurde tagtäglich ausgeübt. Jede Taufe in einer katholischen Kirche enthielt einen sogenannten kleinen Exorzismus. Die Paten wurden aufgefordert, anstelle des Säuglings öffentlich dem Satan zu widersagen.
Teufelsaustreibungen gab es in vielen Religionen, zahlreichen Kulturen. Bruder Arno hatte sich intensiv damit beschäftigt. Er hatte immer wieder die Auseinandersetzung mit Vero gesucht, war schier daran verzweifelt.
Und schließlich ein Gegner des Exorzismus geworden.
Vero wusste das. Alle wussten es.
Doch Bruder Arno allein hatte nichts ändern können. Er hatte versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten. Lediglich Bruder Matteo war von Anfang an auf seiner Seite gewesen. Bruder Matteo, der alte, weise Mann mit dem schwachen Herz. Ein Mann mit einem kranken Herzen war kein idealer Verbündeter.
Bruder Arno schaute sich um. Jeder Tisch im Café war besetzt. Die Feuchtigkeit im Raum schlug sich auf den Fensterscheiben nieder. Ein kleiner Junge hatte sich vorgebeugt und leckte das Schwitzwasser ab. Er kassierte dafür eine Schimpftirade seiner Mutter.
Jung und alt.
Es reizte Bruder Arno nicht, diese Familie zu fotografieren. Er zahlte, zog sich an, schnallte sich den Rucksack auf dem Rücken fest und verließ das Café.
Draußen empfing ihn die nasse, neblige Novemberluft. Die Rur führte Hochwasser und schoss schäumend unter der Brücke her, die Bruder Arno gerade überquerte.
Seine Stimmung war dunkel wie der Tag. Man würde es den Fotos ansehen, später, wenn sie ihre Geschichte erzählten.
Bruder Arno nahm sich vor, bei Gelegenheit Bruder Matteo zu fotografieren. Und mit einem Mal bedauerte er es mehr als alles andere auf der Welt, kein Foto mehr von Sally machen zu können.
»Mörder«, flüsterte er vor sich hin. »Mörder. Mörder.«
Zwei Mädchen, die ihm fröhlich schwatzend entgegenkamen, beobachteten ihn aus den Augenwinkeln und brachen hinter seinem Rücken in Gelächter aus.
Jeder Knochen im Leib schmerzte sie und in ihrem Körper tobte das Fieber. Trotzdem schnatterte Pia vor Kälte.
Sie hatte nichts zum Zudecken und es gab keine Heizkörper.
Vielleicht war der Raum mit Fußbodenheizung ausgestattet. Pia betastete das Laminat, doch alles, was sie mit ihren fiebrigen Hände berührte, fühlte sich eisig an.
Einige Male war sie trotz der unbequemen Lage weggedämmert, doch gleich hatte sie die Augen wieder aufgerissen. Sie wehrte sich gegen das Einschlafen. Sie hatte Angst, nicht wieder aufzuwachen.
Oder in dieser hilflosen Lage überrascht zu werden.
Was sie neben ihrer Angst quälte, war die Scham. Sie hatten sie auf die Knie gezwungen. Gegen ihren Willen festgehalten. Sie hatten ihren Kopf so fixiert, dass Vero seine Stola über sie breiten und die Hand darauf legen konnte.
Noch jetzt hatte sie das Gefühl, keine Luft zu kriegen. Wieder keimte Panik in ihr auf.
»Pschsch«, flüsterte sie. »Pschsch.«
Thomas fehlte ihr. Sie vermisste die Gespräche mit ihm, die Luftschlösser, die sie gebaut hatten, seine Musik, sein Lachen und sogar seine Traurigkeit.
Ob er sie sehen konnte von dort aus, wo er jetzt war?
Pia war sich nicht darüber im Klaren, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubte. Sie hatte bisher nicht einmal gewusst, ob sie sich ein solches Weiterleben überhaupt wünschte. Erst nachdem Thomas gestorben war, hatte sie die Frage mit ja beantworten können.
Immer schon
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