Teufelsengel
Träume.
Er war frei.
Der Bankchef war ein Freund von Calypsos Vater. Er residierte hinter einer peinlich aufgeräumten Schreibtischlandschaft und hatte ein Verhältnis mit seiner Vorzimmerdame, die aussah wie ein Rauschgoldengel über vierzig.
Calypsos Vater hatte »alle Hebel in Bewegung gesetzt«, um seinem Sohn diesen Ausbildungsplatz zu beschaffen. Er war »über seinen Schatten gesprungen« und hatte seinen Freund bei einem Treffen der Rotarier um diesen Gefallen gebeten. Und es war ihm »weiß Gott nicht leichtgefallen«.
Und nun war Calypso in das streng bewachte Territorium des Chefs eingedrungen, hatte den Vorzimmerterrier keines Blickes gewürdigt und war an ihm vorbei zur Tür marschiert.
Der Chef beendete gerade ein Telefongespräch. Unwillig schaute er auf. »Was kann ich für Sie …«
Und da hatte Calypso ihm den Kram vor die Füße geworfen.
FREI!
Wie viele Hoffnungen und Erleichterungen schwangen in diesen paar Buchstaben mit.
Die Schneeflocken waren dicker geworden. Sie tänzelten durch die graue Luft und dämpften die Geräusche. Für eine Sekunde oder zwei hatte Calypso das Gefühl, in einen Stummfilm geraten zu sein.
In dieser kurzen Zeitspanne wurde ihm klar, dass er schaffen konnte, was immer er wollte.
Er nahm sich nicht die Zeit, zuerst nach Hause zu gehen, um sich umzuziehen. Er löste seine Krawatte und stopfte sie in die Tasche seiner Jacke. Während er losrannte, um die Straßenbahn zu erwischen, fragte er sich, warum er sich die Informationen, die er benötigte, nicht einfach übers Internet besorgte. Daran hatte er nicht ein einziges Mal gedacht.
Weil es nur der halbe Spaß gewesen wäre.
Schließlich stand er vor seinem Ziel.
Grauer Verputz. Spiegelnde Fensterscheiben. Eine Art Villa. Oder Gutshof. Mit einer breit gemauerten Treppe, die mit stolzer Behäbigkeit zum Eingang hinaufführte. Die beiden steinernen Löwen auf der Brüstung und die von Laternen gesäumte Zufahrt verströmten einen Touch Hollywood, der Calypso kurz schmunzeln ließ, bevor die Aufregung ihn wieder packte.
Er wäre genauso aufgewühlt gewesen, wenn das Haus am Chlodwigplatz gestanden hätte. Ebenso außer sich. Es hätte ein Stockwerk in einem heruntergekommenen Mietshaus sein können. Es wäre Calypso egal gewesen.
Vierzehn Treppenstufen.
Zweimal sieben.
Plötzlich war alles symbolträchtig.
Sieben. Die heilige Zahl.
Calypso stieß die Tür auf und betrat eine Halle, die nicht auf Hochglanz poliert, nicht im Mindesten elegant oder stylisch war, eher schon ein bisschen schäbig. Stumpfer, milchiger Marmor auf dem Boden. Einfache Kunstdrucke an den Wänden. Ein alter Tisch vor einem Regal voller Bücher und DVDs.
Von der hohen Decke hing ein riesiger, prunkvoller Kronleuchter herab, dessen Hunderte gläserner Tropfen im Licht der Glühbirnen funkelten. Eine gewaltige rotbraune Holztreppe wand sich ins erste Stockwerk hinauf.
Als nächstes entdeckte Calypso die großen goldgerahm - ten Fotografien rechts und links an den Wänden. Es waren Porträts von Schauspielern. Calypso kannte fast alle.
»Was kann ich für Sie tun?«, hörte er eine Männerstimme.
Calypso drehte den Kopf. Wie ein kleiner Junge hatte er in der Mitte des Foyers gestanden und sich staunend umgesehen, hungrig, jedes Detail aufsaugend. Der Mann hinter dem Tisch war seiner Aufmerksamkeit dabei völlig entgangen.
»Entschuldigen Sie. Ich hab nur … ich bin einfach …«
Der Mann war etwa Anfang dreißig. Er hatte ein tief gebräuntes Gesicht, das von den wüsten Narben einer überstandenen Akne zerklüftet war. Seine Nase war platt und krumm, als wäre sie schon mehrmals gebrochen worden. Das strahlende Lächeln, mit dem er Calypso entgegensah, wirkte zunächst irgendwie fehl am Platz, doch dann entfaltete es eine enorm ansteckende Wirkung.
»Schau dich nur um«, sagte er. »Wir sind wahnsinnig stolz auf dieses Haus. Das Büro in der City haben wir beibehalten. Es gibt dort auch noch Räume, die wir nutzen. Doch der Hauptbetrieb findet seit ein paar Jahren hier statt, in diesem prächtigen Ambiente.«
Calypso traute sich kaum zu atmen. Er hatte das Gefühl, auf Zehenspitzen gehen zu müssen. Man begegnete nicht jeden Tag seinem Traum.
»Und wenn du damit fertig bist, dann sag mir einfach, wie ich dir weiterhelfen kann.«
»Ich möchte Schauspieler werden«, hörte Calypso sich selbst sagen, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen und als wäre es das selbstverständlichste Anliegen auf der Welt. »Wann findet das
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