Lebenselixier
01
Nach zwanzig
Jahren, die Vater Vincente in seiner Gemeinde arbeitete, glaubte er, alles
erlebt zu haben. Doch was Hannah Sauer ihm vor ungefähr einer Stunde
unterbreitet hatte, war mit Abstand das Verrückteste, was ihm jemals eines
seiner Beichtkinder unterjubeln wollte. Sie benötigte Hilfe, daran bestand kein
Zweifel.
Vincente hatte die unscheinbare Frau gebeten in der Kirche zu warten, bis die
Beichtstunde beendet war.
Während er in der
engen, stickigen Kammer des Beichtstuhls saß und sich die kleinlichen Bosheiten
seiner Mitmenschen anhörte, irrten seine Gedanken immer wieder ab. Er stellte
sich vor, wie Hannah draußen in einer der vom Alter dunklen Holzbänke kniete und
einen Rosenkranz nach dem anderen betete, mit leidenschaftlicher Inbrunst, wie
sie es schon als Siebzehnjährige getan hatte. Zwölf Jahre war das jetzt her.
Ihre Eltern kamen bei einem Unfall ums Leben. Sie und ihre sechsjährige
Schwester Erika blieben als Waisen zurück. Es war das Sorgerecht für Erika, um
das Hannah täglich ihren Erlöser anflehte.
Beeindruckt von ihrer madonnenhaften Ernsthaftigkeit setzte Vincente sich beim
Jugendamt für die beiden ein. Sobald Hannah volljährig wurde, durfte Erika nach
Hause zurückkehren.
Doch nun, seit drei Tagen, seit der Nacht ihres achtzehnten Geburtstages, war
Erika verschwunden. Mitgenommen hatte sie nur einen kleinen Koffer und ihren
iPod.
Sie hinterließ einen tränenseligen Brief, in dem sie Hannah für die Opfer
dankte, die sie auf sich genommen hatte. Aber sie erhob auch einige Vorwürfe,
die sich nicht ganz von der Hand weisen ließen. Und sie kündigte an, nicht
zurückzukehren.
Ein Aufleuchten
blonder Haare fiel durch das verschnörkelte Gitter zwischen den Abteilen des
Beichtstuhls. Es überzeugte Vincente, dass es Hannah war, die wieder hereinkam.
Die Mehrzahl seiner Schäfchen, die sich regelmäßig zur Beichte sehen ließen,
neigte eher zu diversen Grautönen.
Das alte Gestühl knarrte leise.
„Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt!“
Die Worte kamen ganz automatisch über Hannahs Lippen, obwohl sie erst vor einer
knappen Stunde ihre belanglosen, teils eingebildeten Verfehlungen bekannt
hatte. Es war die Vertraulichkeit der Beichte, die dieser gequälten Seele
überhaupt den Mut gab, über die Wahnvorstellungen zu sprechen, von denen sie
heimgesucht wurde.
„Hannah, sicher
ist dir bewusst, dass der Verdacht, den du vorhin geäußert hast - ungewöhnlich
ist?“
Vincente versuchte, einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen. So sehr er auch
geübt war, alleine über die Stimme auf die Gemütsverfassung eines Menschen zu
schließen, so hätte er es jetzt vorgezogen, ihr Gesicht vor Augen zu haben. Bei
jedem anderen wäre er überzeugt gewesen, das Opfer eines schlechten Scherzes zu
sein.
„Vater bitte, halten Sie mich nicht für naiv. Ich weiß, Sie glauben, ich sei
verrückt geworden.“
„Ich halte dich nicht für verrückt, Hannah.“ Vincente widersprach mit so viel
Überzeugung, wie er aufzubringen vermochte. „Mir ist klar, wie sehr die Sorge
um Erika dich belasten muss.“ Er konnte nur einen kleinen Ausschnitt ihrer
bleichen Wangen erahnen und der Augen, die von violetten Ringen umgeben waren.
„Du weißt, der Herr erwartet, dass wir in angemessener Weise für uns selbst
sorgen, gerade in schweren Zeiten. Hast du überhaupt geschlafen oder etwas
gegessen, seit Erika das Haus verlassen hat?“
Ein unterdrücktes Schluchzen bestätigte seinen Verdacht.
„Ich kann einfach nicht schlafen. Und auch nicht essen. Ich hab es versucht,
wirklich! Ich sitze nur die ganze Zeit in Erikas Zimmer. Mit ihren Sachen und
den Bildern dieser schrecklichen Musikgruppen. Und die Bücher, Vater! Wissen
Sie noch, wie froh ich war, als sie zu lesen begonnen hat? Ich hätte mich darum
kümmern müssen, was sie liest! Lauter unanständiges, gotteslästerliches Zeug,
über unnatürliche Wesen ...“
Noch mehr Kontrolle hätte das Verhältnis zwischen ihr und Erika wohl kaum verbessert.
Vincente hatte es aufgegeben, Hannah davon überzeugen zu wollen. Aber er
glaubte jetzt zu ahnen, was sie auf diese abstruse Idee gebracht hatte.
„Dann hat Erika also Bücher über Vampire gelesen?“
„Vampire, Werwölfe, alle möglichen abartigen Kreaturen. Es ist furchtbar!
Obszön!“
„Hannah, so sehr diese Romane dich abstoßen mögen, ist dir doch bewusst, dass
es sich dabei um reine Fiktion handelt? Nichts davon ist real!“
„Die Bücher haben Erikas Seele vergiftet.“ Ihre
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