Teufelskuss und Engelszunge - Jones, E: Teufelskuss und Engelszunge
Dieses Gefühl behagte ihr nicht, und sie musste sich geradezu zwingen, ihren schlanken Körper aus der Wolkenmasse zu schälen. Die letzten Schwaden schlängelten sich noch für einen Moment um ihren Oberkörper, dann lösten sie sich gänzlich in Luft auf.
Marafella wurde plötzlich von einem innerlichen Frösteln überfallen, obwohl der Boden unter ihren Füßen so heiß wie Lava glühte.
Wie seltsam, sagte sie sich.
Sie legte den Kopf schief und lauschte in die einbrechende Dunkelheit hinein. Engel empfanden diese Dinge normalerweise nicht. Sie besuchten die Erde, um den Seelen auf ihrem Weg in die Ewigkeit zur Seite zu stehen. Niemals gab es Zeit für etwas anderes, wie die genauere Erkundung ihrer Umgebung oder die Wahrnehmung von den Dingen, die sich dort abspielten.
Doch an diesem Abend sah sich Marafella ihre Umgebung genauer an.
Sie stand in einer verlassenen Straße, die von grauen Häusern umsäumt wurde. Mächtige Bäume reckten sich überall in die Höhe. Ihre Kronen hingen wie düstere Mahnmale über den Dächern. Die Szenerie wirkte insgesamt recht unangenehm und je länger sie über diese Eigenart nachdachte, umso stärker machte sich die Kälte in ihr breit.
Erst als ein Grauen erweckendes Geräusch die Stille durchbrach, fand sie wieder zu sich. Angestrengt kniff sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Ein dumpfes Grollen fiel über sie her, doch es dauerte nur einen Augenblick, da war es auch schon wieder verklungen. Marafella blickte verwirrt in die plötzlich herein gebrochene Nacht. Unwillkürlich musste sie sich fragen, aus welchem Grund sie sich eigentlich an diesem Ort aufhielt. Sie hatte es vergessen. Mit einem Mal fühlte sie sich deplatziert – viel schlimmer noch, sie gewann sogar den Eindruck, als steckte sie in dem vollkommen falschen Körper.
Dann durchfuhr es sie wie ein Blitzschlag.
Die Seele!
Erschrocken schnaufte sie, und ihr Atem kondensierte dabei zu verschlungenen weißen Schwaden. Sie richtete sich kerzengerade auf, lauschte in sich hinein und suchte mit all ihrer Gedankenkraft nach einem pulsierenden Signal in der Nähe. Ein Engel war in der Lage, Seelen zu erspüren. Ein Kinderspiel! Normalerweise. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, dieses Mal scheiterten ihre Bemühungen. In ihrem Inneren machte sich plötzlich eine ungewöhnliche Kälte breit und brachte sie nun zum Erstarren. Ihr wurde bewusst, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Warum gab es keinerlei natürliche Anziehungskraft? Es schien, als hätte es hier niemals einen Verstorbenen gegeben, und damit auch keinerlei Grund für sie, eine Seele auf den Weg in den Himmel zu begleiten. Aber das konnte doch nicht sein, sagte sie sich. Ein Engel wurde nicht auf die Erde gesandt, wenn es für ihn nichts zu tun gab. Also begann sie zu suchen. Sie lief die Furcht einflößende Straße entlang, schaute in jeden Vorgarten und in jede Einfahrt. In ihrem Auftrag hatte nichts darauf hingewiesen, dass sich die Seele innerhalb eines Hauses befand. Sie musste hier draußen, an der freien Luft, sein.
Ohne ihre Kraft des Erspürens musste sie lange suchen, ehe sie auf einen Mann stieß, der leblos am Boden lag. Eine Hand war ausgestreckt in Richtung Gartenpforte. Vermutlich hatte er im letzten Moment danach greifen und sich festhalten wollen, war aber vorher zusammengesunken. Ein Kiesweg führte von dieser Stelle hin zu einem prächtigen Einfamilienhaus aus rotem Backstein. Der graue Schleier, der über allem lag, war hier wie vom Wind davon geweht. Licht erstrahlte aus sämtlichen Fenstern. Eine Frau blickte hinter einem Vorhang hinaus auf die Straße. Für einen Moment schien es Marafella, als würde die Frau sie sehen. Aber das war unmöglich. Plötzlich veränderte sich das zuvor strahlende Gesicht der Frau in eine ungläubige Grimasse. Ihre Augen weiteten sich und ihre komplette Körperhaltung schien sich in einem einzigen Ruck zu verkrampfen.
Marafella hörte den spitzen Schrei in ihrem Kopf widerhallen. Ebenso spürte sie die Menschentraube, die sich nur Minuten später um den Leichnam scharte. Alles ging so schnell. Es wurde hell, belebt, eng und hektisch. Marafella konnte das in sich aufsteigende Gefühl nicht zuordnen. Sie war sich allerdings sicher, dass sie kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren.
Ein Engel, ganz besonders ein Seelensammler, wie sie einer war, konnte mit einer solchen Situation nicht umgehen. Die vielen hochkochenden Emotionen
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