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Feuerfrau

Feuerfrau

Titel: Feuerfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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PROLOG

    I ch träume jedesmal von Nonna, wenn sich etwas Wesentliches in meinem Leben ankündigt. Das Traumbild wechselt, flimmernd wie ein unscharfer Filmstreifen, und ergibt auch nicht immer einen Sinn. Wenn ich erwache, verblaßt es bereits, aber irgendwie in mir schwebt die Erinnerung.
    Ich weiß, daß es eine andere Wirklichkeit als meine gibt, das wußte ich schon als Kind. Nonna hat mich nie ganz verlassen, obwohl sie längst gestorben ist. Ihr Fortbestehen, an der Schwelle zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, wurde für mich zur natürlichen Gegebenheit.
    Manchmal verfließt diese Grenze, und Nonna erscheint mir im Traum. Und jedesmal führt sie mich in meine Kindheit zurück, formt Bilder und Gefühle in mir, die mit einem ganz besonderen Ereignis in Verbindung stehen. Der Ort: Casa Monte, das alte Haus in Montereale Celina, in dem sie vor achtzig Jahren zur Welt kam. Der Zeitpunkt: der fünfzehnte August, am späten Nachmittag. Mein Alter: zehn. In dieser Nacht waren die Bilder ungewöhnlich deutlich. Ich sah mich selbst, im großen Spiegel über Nonnas Kommode. Ein zartes Kind, mit dunklen Zöpfen und mandelförmigen Augen. Das Gesicht rund, sonnengebräunt und sehr glatt, der Ausdruck nachdenklich.
    Während ich mich betrachtete, sah ich im Spiegel hinter meinem Gesicht das von Nonna. Ihr noch schwarzes Haar trug sie so über den Kopf hochgesteckt, daß die Stirn, die fast keine Falten zeigte, frei blieb. Nur das Kinn war schlaff geworden, und das Alter hatte ihre Augen getrübt. An jenem Nachmittag hatte sie eine Stunde in ihrem verdunkelten Zimmer geschlafen und war noch nicht angekleidet. Sie trug ihren weißen Morgenmantel und darunter einen hellblauen Unterrock aus Kunstseide. Sie war knapp über sechzig: eine große Frau, mit einem wunderschönen Rücken, breiten Hüften und einer ganz schmalen Taille. Ihre kleinen Füße steckten in koketten Hausschuhen. Ihre Nase war freundlich, ihr großzügiger Mund lag weich um ihre noch tadellosen Zähne. An ihrem Körper war die Haut hell wie Elfenbein. Nur Arme und Hände, von der Sonne gebräunt, wiesen einige Flecken auf. »Ariana, vieni qui!«
    Sie setzte sich auf das ungemachte Bett und zog mich zwischen ihre Knie, um mein Haar neu zu flechten. Meine Mutter beklagte sich, daß ich beim Frisieren nie ruhig blieb, aber bei Nonna hielt ich geduldig still. Sie flocht meine Zöpfe mit ihren gelenkigen Händen, wobei sie ein Volkslied aus ihrer eigenen Kindheit summte. Ihre Stimme war klar, tief im Ton. Nur die dunkle Aussprache der Konsonanten, den schleppenden friaulanischen Akzent hatte sie bewahrt.
    »A la feria de l’est
    per due soldi
    un topolino mi padre mi compro…«
    »Auf der Kirmes im Osten kaufte mir mein Vater für zwei Groschen ein Mäuschen…«
    Sie unterbrach sich, runzelte leicht die Brauen. »Hörst du, Piccina?
    Hörst du, wie es donnert?« Ich lauschte. Dunkles, undeutliches Brummen wehte von Hügel zu Hügel, als ob in einem Augenblick des Fieberwahns die Berge erwacht waren. Ein Gewitter! Ich war sehr aufgeregt, von freudiger Erwartung erfüllt. Ich liebte wilde Wolkenstrudel, prasselnden Regen, das Flattern der Blitze.
    »Regen ist gut für die Pflanzen«, sagte Nonna. »Nach dieser Trockenheit!«
    Sie band meine Schleifen fest, erhob sich, wobei sie sich unter dem Büstenhalter kratzte und sich ächzend die Hüften massierte. Ihre Gelenke schmerzten, wenn das Wetter sich änderte. Die Krankheit, die sie einige Jahre später an den Rollstuhl fesseln sollte, kündigte sich schon in ihren Knochen an.
    »Geh, Piccina! Geh spielen. Ich komme gleich.«
    Ich tänzelte die Steintreppe herunter, summte das Lied vor mich hin, das sie gerade gesungen hatte.
    »A la feria de l’est, per due soldi…«
    Maria stand in der Küche und rollte einen Teig. Ihre Arme waren bis zum Ellbogen mit weißem Mehlstaub überpudert.
    »Heiliger Himmel, diese Hitze!«
    »Ich weiß, was da kommt!« rief ich. »Ein Gewitter!«
    »Jesusmaria!« seufzte Maria, »hoffentlich wird es nicht schlimm!«
    Ich lief an die offene Haustür. Die warme Luft schlug mir wie aus einem Ofen entgegen. Die Gerüche von reifen Maulbeerfrüchten, warmem Salbei und trockenem Kuhmist waren zu einem einzigen Dunst vermischt. Mein T-Shirt klebte am Nacken. Alles war windstill. Plötzlich ertönte in der Ferne ein explosionsartiger, dumpfer Laut. Ein paar Vögel flatterten unruhig unter den Dachziegeln auf. Ich beobachtete die ersten Wolkenschwaden, die wie graue Watte über

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