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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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durchfährt mich wie ein Messerstich.
    Ich hätte bei ihr sein sollen.
    Am liebsten möchte ich mich zusammenrollen und vor allem verstecken, was passiert ist, doch ich gehe zu meiner Mutter. Ich knie mich hin, bette meinen Kopf in ihren Schoß, dann nehme ich ihre Hand und lege sie auf mein Haar.
    Wenn ich mein Leben auf das Wesentliche reduzieren könnte, dann wäre es das: Mein Kopf im Schoß meiner Mutter, ihre Finger in meinem Haar, während sie mir am Feuer die Geschichten über das Leben vor der Rückkehr erzählt, die in unserer Familie von Frau zu Frau überliefert worden sind.
    Jetzt sind die Hände meiner Mutter klebrig, und ich weiß, dass sie von ihrem Blut verschmiert sind. Damit ich es nicht sehen muss, damit ich die Schwere ihrer Verletzungen nicht zur Kenntnis nehmen muss, schließe ich die Augen.
    Meine Mutter ist ruhiger. Instinktiv verwuscheln ihre
Hände mein Haar und befreien es vom Kopftuch. Sie wiegt sich hin und her und spricht vor sich hin, so leise, dass ich es nicht verstehen kann.
    Zunächst lassen die Schwestern uns gewähren. Mit der Elite der Wächter, der Gilde, stecken sie drüben in der Ecke die Köpfe zusammen. Ich weiß, sie treffen eine Entscheidung über das Schicksal meiner Mutter. Wenn sie nur Kratzer abbekommen hat, bleibt sie unter Beobachtung, auch wenn sie sich vielleicht gar nicht angesteckt hat.Wenn sie aber gebissen und somit von einem Ungeweihten infiziert wurde, bleiben nur zwei Möglichkeiten. Sie gleich zu töten oder sie einzusperren, bis sie sich wandelt, und sie dann durch den Zaun zu stoßen. Wenn meine Mutter noch bei Sinnen ist, stellen sie ihr am Ende die Frage und lassen sie selbst entscheiden.
    Ob sie einen schnellen Tod sterben und ihre Seele retten oder hinausgehen und unter den Ungeweihten vegetieren will.
    Im Unterricht haben wir gelernt, dass jene, die angegriffen wurden, am Anfang, gleich nach der Rückkehr, nicht wählen durften. Sie wurden nahezu umgehend getötet. Das war damals vor der Wende, damals, als es noch so aussah, als würden die Lebenden den Kampf verlieren.
    Aber dann war eine Infizierte zu den Schwestern gekommen und hatte darum gebeten, zu ihrem Mann im Wald gehen zu dürfen. Sie plädierte für ihr Recht, das Eheversprechen zu erfüllen, das sie dem Mann gegeben hatte, den sie gewählt und geliebt hatte. Die Lebenden hatten diesen Ort hier bereits aufgebaut – hatten ihn so
gut geschützt und sicher gemacht, wie ein Ort in der Welt der Ungeweihten nur sein konnte. Und die Frau hatte ein ausgezeichnetes Argument angeführt: Was einen Lebenden von einem Ungeweihten unterscheidet, sagte sie, ist die Möglichkeit zu wählen, der freie Wille. Die Frau wollte die Wahl treffen können, mit ihrem Mann zusammen zu sein. Die Schwestern stritten mit den Wächtern darüber, aber die Schwesternschaft hat immer das letzte Wort. Sie entschied, dass eine Ungeweihte mehr unsere Gemeinschaft nicht in Gefahr bringen würde. Daraufhin wurde die Frau unter Bewachung zum Zaun gebracht, wo drei Wächter sie festhielten, bis sie der Infektion erlegen war. Dann, kurz vor ihrem Tod und der Rückkehr als Ungeweihte, schob man sie durch das Tor.
    Ich kann gar nicht ermessen, was es für eine alte Frau bedeutet, einem derartigen Schicksal ins Auge zu sehen. Aber so ist das wohl, wenn man eine Wahl hat.

2
    D u bleibst jetzt bei uns«, teilen mir die Schwestern mit, »bis dein Bruder kommt.« Jed ist immer noch nicht von seinem Kontrollgang an den Zäunen zurück. Die Schwestern haben einen Boten nach ihm ausgeschickt, aber wir müssen uns darauf einstellen, dass es noch mindestens einen Tag dauern wird, ehe wir ihn zurückerwarten können. Bis dahin wird unsere Mutter wahrscheinlich schon von uns gegangen sein, und er wird keine Gelegenheit mehr haben, ihr die Wahl auszureden, die sie getroffen hat.
    Meine Mutter will sich den Ungeweihten anschließen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Bruder mir die Schuld dafür geben wird. Er wird mich fragen, warum ich ihr erlaubt habe, diese Entscheidung für sich zu treffen. Warum ich nicht stellvertretend für sie gesprochen und die Wächter gebeten habe, sie zu töten.
    Ich bin mir nicht sicher, dass ich wissen werde, was ich ihm antworten soll.
    Einen lebenden Menschen dem Wald der tausend Augen zu übergeben, ist ein komplizierter Prozess.Vor Jahren haben die Wächter herausgefunden, dass der Transfer
nicht zu früh vollzogen werden darf. Ein lebendiger Mensch, den man in den Wald hinausstößt, ist nämlich

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