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The Forest - Wald der tausend Augen

Titel: The Forest - Wald der tausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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schön ist es, das Meer.« Diese Worte wiederholt sie immer wieder, unvergossene Tränen glänzen in ihren Augen. »Das Wasser, die Wellen, der Sand, das Salz!« Nun rüttelt sie am Zaun und nach beiden Seiten hin laufen Wellen durch das Drahtgeflecht, der Zaun schwingt hin und her. Ihre Stärke erstaunt mich, sie stirbt schon seit so vielen Stunden.
    »Es verschlingt mich«, sagt sie. Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern. Sie steckt einen Finger durch den Draht und streichelt mein Handgelenk. »Mein kleines Mädchen«, sagt sie. »Vergiss mein kleines Mädchen nicht.« Tränen quellen aus ihren Augen, ich höre den Wächter hinter mir aufschreien, dann sackt meine Mutter zu Boden, ihre Finger entgleiten mir.

    In dem Moment zwischen dem Tod meiner Mutter und ihrer Rückkehr höre ich auf, an Gott zu glauben.

    Schnell packt der Wächter den Strick am linken Fußgelenk meiner Mutter, während ich vom Zaun wegrutsche. Der Strick ist mit einem System aus Flaschenzügen hoch oben im Geäst verbunden. Der Wächter zieht an seinem Ende
und meine Mutter wird an den Rand des Käfigs gezerrt. Der Wächter betätigt einen Hebel und ein Tor geht hoch und ihr lebloser Körper gleitet in den Wald der tausend Augen. Den Strick kappt er, dann betätigt er den Hebel wieder und das Tor schließt sich knirschend. Einen Herzschlag lang ist die Welt um uns herum still, das Geräusch unseres Atems wird vom Nebel gedämpft.
    Die Pflicht des Wächters ist erfüllt, nachdem der Körper meiner Mutter nun ganz und gar den Ungeweihten überlassen worden ist. Er legt mir eine Hand auf die Schulter. Ob er mich trösten oder zurückhalten will, spielt keine Rolle. Ich bilde mir ein, den Puls in seinen Fingerspitzen zu spüren. Wir sind beide so lebendig in diesem Augenblick, in dem uns so viel Tod umgibt.
    Ich weiß nicht recht, ob ich die Rückkehr meiner Mutter beobachten möchte. Ob ich es ertrage, das zu sehen. Aber mir lässt die Frage keine Ruhe, wie es wohl sein mag. Wird es ein Aufblitzen oder gar einen Moment geben, in dem sie sich an mich erinnert? Wo bleiben die Erinnerungen an ihr altes Leben?
    Meine Mutter hat mir immer Geschichten aus der Zeit lange vor der Rückkehr erzählt, als sich die Lebenden fragten, was wohl nach dem Tod geschehen würde. Sie hat gesagt, dass sich aus dieser einen simplen Ungewissheit ganze Religionen entwickelt haben.
    Jetzt, wo wir wissen, was nach dem Tod passiert, ist eine neue Frage an die Stelle der alten getreten:Warum?
    Plötzlich werden alle möglichen Fragen in mir laut. Hätte ich sie anders kleiden sollen? Hätte ich sie in wärmere
Kleider stecken sollen oder bessere Schuhe? Hätte ich einen Zettel in ihr Kleid heften sollen, auf dem geschrieben steht, dass ich sie liebe? Wie lange mag es wohl dauern, bis sie meinen Vater gefunden hat? Wird sie ihn erkennen? Ein Bild der beiden, wie sie am Zaun Händchen halten, blitzt in meinem Kopf auf.
    Ehe ich überhaupt begreife, was los ist, ist sie auf den Beinen. Sie starrt mich an und einen Augenblick lang habe ich nur einen Gedanken: Mutter. Dann macht sie ihren Mund auf, und meine Welt zerbricht unter ihren Schreien, die zu einem Stöhnen abebben, als die Stimmbänder erschlaffen.
    Das kann ich nicht ertragen, ich will auf sie zugehen und kämpfe gegen das Gewicht der Wächterhand an, aber dann höre ich, wie warnend mein Name gerufen wird.
    Es ist Jed. Ich habe ihn nicht kommen hören, aber jetzt kann ich ihn riechen, es ist der Geruch nach Holz und Arbeit und dem Rauch von unserem Feuer zu Hause. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn anzuschauen. Ich weiß nur, dass er hinter mir steht, und ich lasse mich gegen ihn fallen. Er ist heimgekehrt von seiner Patrouille am Zaun, noch rechtzeitig, um unsere Mutter sterben zu sehen – und ihre Rückkehr.
    Später wird der Wächter in ihm mir Fragen stellen und mich schelten.Weil ich meiner Mutter erlaubt habe, diese Wahl zu treffen, und weil ich meiner Verantwortung nicht nachgekommen bin, als ich so lange am Bach herumgetrödelt habe. Weil ich zu selbstsüchtig gewesen bin, um
zu begreifen, dass meine Mutter ohne mich in den Wald gehen würde, und weil ich nicht da war, um sie aufzuhalten.
    Aber im Moment ist er mein Bruder und unsere Eltern sind fort und wir sind alles, was wir noch haben.

3
    J ed bringt mich zum Münster zurück. Als Erstes ziehen die Schwestern mir dort meine Kleider aus und ertränken mich beinahe im heiligen Brunnen. Ob das Wasser mir jetzt das Fleisch versengt, da ich nicht mehr an

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