Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Winterleute die alten Überlebenstechniken in Harmonie mit dem Meer neu erlernen mußten. Indessen würden die Sommerköniginnen ihnen das humane Antlitz der weisen Herrin offenbaren.
»Aber weshalb wünscht die Sommerkönigin – oder die Herrin –, daß die Sibyllen in die Stadt kommen?« fragte Clavally. »Wo es doch deren Aufgabe ist, sich unter die Leute zu mischen und ihnen zu helfen, das neue Leben zu meistern.«
»Sie sagte, sie wolle allen Sibyllen erklären, daß sie einem höheren Zweck dienen als bisher angenommen, und diese Erkenntnis habe sie von der Meeresmutter selbst.« Die Goodventure-Frau hob die Schultern und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Man fragt sich natürlich, welchem höheren Zweck als bisher könne eine Sibylle denn noch dienen?«
»Ja«, murmelte Clavally unsicher. »Es ist wirklich eine sonderbare Bitte.«
»Was ist los?« Danaquil Lu trat neben sie und hob die Augenbrauen.
»Die Sommerkönigin hat alle Sibyllen nach Karbunkel eingeladen, weil sie ihnen etwas zu sagen hat«, antwortete sie. Sie sah, wie ihr Mann aschfahl wurde. Die Narben auf seiner Wange, die von seiner grausamen Verbannung aus Karbunkel stammten, stachen plötzlich hervor wie Brandmale. Haltsuchend griff er nach ihrem Arm.
»Ach«, war alles, was er darauf erwidern konnte. Er atmete tief durch und füllte die Lunge mit der frischen Seeluft.
»Wir brauchen nicht hinzugehen«, schlug Clavally vor. »Es werden auch so genug da sein.«
»Ein kluger Entschluß. Aber wieso machst du ein Gesicht, als ob dir diese Nachricht keine Freude bereitete, Clavally Bluestone?« Eine vierschrötige, knorrige Frau gesellte sich zu ihnen. Clavally erkannte Capella Goodventure, die Anführerin des Clans.
Clavally gab keine Antwort sondern sah wieder Danaquil Lu an, dessen Blick aufs Meer gerichtet war, als wäre er ganz allein.
»Dein Gespons scheint auch nicht begeistert zu sein«, fuhr Capella neugierig fort. »Zu welchem Clan gehört er eigentlich?« Am Klang ihrer Stimme hörte Clavally heraus, daß sie die Antwort bereits kannte, obschon Danaquil Lu weder ein eingesticktes Symbol auf seiner Tunika noch irgendein anderes Clan-Abzeichen trug.
»Ich stamme von den Wayaways ab«, antwortete Danaquil Lu mit flacher Stimme, wobei er sie ansah. Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er ihr Manöver ebenfalls durchschaut hatte.
»Von den Wayaways? Aber ist das nicht ein Winter-Clan?« entgegnete Capella säuerlich, Überraschung heuchelnd. »Dann sollte man doch annehmen, du könntest es nicht erwarten, wieder in deine Heimat zu kommen.«
»Karbunkel ist nicht mehr meine Heimat«, versetzte er schroff. »Ich bin ein Sibyl.«
»Ja, natürlich.« Sie starrte auf sein Kleeblatt. »Ein Winter-Mann, der die Herrin verehrt. Höchst ungewöhnlich.« Sie rieb sich die Arme und schaute aufs Meer hinaus.
Mit gereizter Miene wandte sich Danaquil Lu von ihr ab. Er glaubte weder an die Herrin noch an sonst etwas, lediglich von seiner Berufung war er überzeugt. Aber die Herrin glaubte an ihn. Mit gerunzelter Stirn sah Clavally Capella Goodventure an. Sie hatte für das Oberhaupt dieses Clans noch nie viel übrig gehabt, und mit jedem Herzschlag verabscheute sie sie ein bißchen mehr.
Clavally öffnete den Mund, um Capella zu fragen, ob sie noch ein Anliegen habe oder nicht.
»Wenn ich eine Sibylle wäre, würde ich um Karbunkel einen großen Bogen machen«, verlautbarte Capella. »Beim letzten Fest war ich dort. Es war meine Pflicht, die Krönung der Sommerkönigin zu beaufsichtigen – und das Ertränken der Schneekönigin.« Sie deutete ein Lächeln an. Clavally biß auf die Zähne, hielt aber den Mund. »Und bei dem, was ich dort sah, fragte ich mich, ob die Herrin Karbunkel nicht vielleicht für immer verlassen hat.«
»Was meinst du damit?« fragte Clavally, die ihre Neugier nicht bezähmen konnte.
»Die neue Königin behauptet, eine Sibylle zu sein.«
Clavally bekam große Augen. Ihre Finger berührten das Kleeblatt, das von ihrem Hals hing. »Aber ist das nicht ein gutes ...«
»Dabei ist sie weiß wie Schnee«, fuhr Capella Goodventure erbarmungslos fort. »Sie ist das genaue Abbild der alten Königin, Arienrhod.« Sie schlug einen giftigen Tonfall an. »Beim Wechsel verzichtete sie auf die korrekten Rituale; sie gibt ketzerische Äußerungen über den Willen der Herrin von sich. Sie wohnt im Palast der Schneekönigin – und sie besaß die Stirn, mich hinauswerfen zu lassen, als ich ihr aufzeigen wollte, wie ihre
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