Die Knochentänzerin
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Prolog
England, 1347
D er Tod kam im fahlen Licht des beginnenden Morgens. Er kam mit einem Schrei, dem ein zweiter folgte, und dieser schloss den ewigen Kreislauf: Leben und Sterben.
Sinead war mit Colins Kind unter dem Herzen nach Cumbrien zurückgekehrt, an diesen dunklen, verwunschenen Ort – dunkler noch und verwunschener jetzt im November. Das Licht schien gefangen in den wuchernden Wäldern, hinter den nebelverhangenen Hügeln, den endlosen Regenschleiern. Der Besitz des verstorbenen Earls von Cumbrien duckte sich als grauer Schemen unter dem Wolkenhimmel. Die Mauern umschlossen das Haupthaus, die Gesindehütten, den Speicher und die Stallungen, als zögen sie ihren Kreis immer enger um die Gebäude. Ein stahlgrauer Bach schnitt mitten durch das Anwesen.
Die zwiespältige Vergangenheit war allgegenwärtig. Seamus der Ire und Earl von Cumbrien wider Willen, den die Liebe zu einer Engländerin hierherverschlagen hatte, war in England stets unglücklich gewesen. Ihm, dem Geschichtenerzähler und Säufer, wurde vom Meer der einzige Wunsch ertränkt, den er am Ende noch hatte: ein letztes Mal Irland, die Heimat zu sehen. Ihn rissen die Fluten zusammen mit seinem Wunsch auf den Meeresgrund, vergaßen dabei aber, das Unglück mitzunehmen, das fortan Sinead auf Schritt und Tritt verfolgte wie ein treuer Hund.
Bei ihrer Ankunft in Cumbrien hatte alles nahezu unverändert gewirkt: das Wetter, die düstere Landschaft, der Besitz. Die Zeit schien stehengeblieben. Doch wer hatte in all den Jahren für den Unterhalt des Anwesens gesorgt? Wer hatte den Verwalter bezahlt, wer den Knecht?
Sinead vergaß diese Fragen, als sie das ungeborene Leben in ihrem Leib spürte. Obwohl ihr das Kind anfangs den Genuss selbst geringster Speisenmengen vergällt hatte, schien ihr die Schwangerschaft umso besser zu bekommen, je weiter sie fortschritt: Ihr feuerrotes Haar war noch dichter geworden, die grünen Augen strahlender, die Haut glatt wie Rosenblätter.
»Ein Junge, das wird ein Junge, so wahr mir Gott helfe.« Die Wehmutter rief dies noch vom Wagen herab, als Sinead sie vom Verwalter aus dem nahen Dorf hatte holen lassen. Doch bald legten sich Kummerfalten über ihre Stirn. »Der Knabe liegt falsch in Euch.«
»Ein Mädchen, kein Knabe.« Sineads Hände strichen sanft über den gewölbten Leib. Sie lächelte. »Sie ist wild und ungestüm, wie ich es einmal war. Sie tritt mich mit den Füßchen. Sie ist ungeduldig und will hinaus.«
»Ein Knabe«, beharrte die Wehmutter, ein rundliches Weib mit strähnigem grauem Haar und wichtiger Miene. »Das sieht man auf den ersten Blick. Bei Knaben ist der Bauch spitz, bei einem Mädchen wäre er rund. Außerdem werdet Ihr Euch selbst einen Knaben wünschen, die sind nicht so schwer wie Mädchen, und die Geburt ist leichter.«
»Ein Mädchen.« Sinead sah nicht ein, warum sie der Hebamme recht geben sollte, deren wichtigtuerisches Gehabe ihr jetzt schon zuwider war. Außerdem verbarg die Wehmutter kaum ihre Abneigung gegen die Fremde, die sich anmaßte, nach all den Jahren hier aufzutauchen, um die Herrin zu spielen. Einen Ehemann hatte sie auch nicht vorzuweisen, zwar ging das Gerücht, es gäbe ihn, und König Edward habe ihn ob seiner Verdienste ums Vaterland geadelt, aber es war eben nur ein Gerücht, das im Dorf herumschwirrte, und wer glaubte schon Gerüchten. Außerdem, welcher Ehemann schickte seine hochschwangere Frau in ein fremdes Haus, das er selbst noch nie betreten hatte?
»Gibt es noch etwas, das ich tun kann, damit sie sich dreht?«, fragte Sinead, ohne große Hoffnung, einen praktischen Ratschlag zu erhalten. Sie hatte bereits verschiedene Beschwörungsformeln für eine erfolgreiche Geburt über sich ergehen lassen, ebenso wie einen Vortrag zur Nottaufe. Diese sei erforderlich, falls das Kind tot zur Welt kam. In einem Kauderwelsch, das wohl Latein sein sollte, hatte die Hebamme die Taufformel rezitiert, um gleich darauf zu erklären, einer ungetauften Totgeburt müsse man einen Pfahl durchs Herz treiben – nicht nur, um das Kind damit von der Ursünde zu befreien, sondern vor allem, damit es nicht zurückkehren und den Menschen Leid zufügen könne.
»Unsere Gottesmutter Maria und die heiligen Schutzpatrone Godehard und Norbert werden schon dafür sorgen, dass das Knäblein sich noch in die richtige Lage dreht.« Der belehrende Tonfall der Wehmutter wechselte ins Säuerliche: »Ihr werdet die Heiligen doch angerufen haben? Und warum tragt Ihr das Amulett
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