Tief im Herzen: Roman (German Edition)
an.« Er konnte sich nicht erklären, warum ihn allein schon der Gedanke daran in solche Wut versetzte. Er wußte nur, daß er nie freiwillig von sich oder einem seiner Brüder verlangen würde, diese seit langer Zeit versperrten Türen wieder aufzureißen. »Empfehlen Sie, was immer Sie wollen. Das heißt nicht, daß wir es tun müssen.«
»Sie müssen tun, was für Seth das Beste ist.«
»Und woher zum Kuckuck wissen Sie, was für ihn das Beste ist?«
»Das ist mein Job«, sagte sie kühl, und ihr Blut fing allmählich an zu kochen.
»Ihr Job? Sie haben einen Collegeabschluß und ein paar Dokumente. Wir sind es, die das alles erlebt haben, die damit leben müssen. Sie waren nicht dabei. Sie haben keine Ahnung, wie es ist, wenn einem das Gesicht zerschlagen wird, und man nichts dagegen tun kann. Wir sind es, die es mit Provinzbürokraten zu tun haben, die nicht die leiseste Ahnung haben, aber über unser Leben entscheiden.«
Keine Ahnung? Sie dachte an die dunkle, verlassene Straße, an die Todesangst, an den Schmerz und an die Schreie. Es ist nicht persönlich gemeint, sagte sie sich schnell, während sich ihr Magen zusammenzog. »Was Sie von meinem Berufsstand halten, ist mir seit unserer ersten Begegnung klar.«
»Genau, aber ich habe dennoch kooperiert. Ich habe Sie informiert, und wir alle haben uns bemüht, daß es klappt. Aber es ist nie genug. Immer kommt noch was anderes.«
»Wenn da nichts anderes wäre«, entgegnete sie, »dann wären Sie nicht so sauer.«
»Selbstverständlich bin ich sauer. Wir haben uns hier die Finger wund gearbeitet. Ich habe gerade das größte Rennen meiner Karriere ausgeschlagen. Ich habe einen Jungen am Hals, der mich in der einen Minute ansieht, als ob ich sein Feind und in der nächsten, als ob ich seine einzige Rettung wäre. Gott.«
»Und es ist schwerer, seine einzige Rettung zu sein als sein Feind.«
Volltreffer, dachte er mit wachsendem Ärger. Woher wußte sie soviel? »Ich sag Ihnen jetzt mal was. Das Beste für den Jungen, für uns alle, ist es, in Ruhe gelassen zu werden. Er braucht Schuhe, also besorge ich ihm welche.«
»Und was werden Sie unternehmen, damit er seine
Angst vor Berührungen verliert, sogar vor den beiläufigsten Berührungen von Ihnen und Ihren Brüdern? Wollen Sie seine Ängste auch mit Geld beseitigen?«
»Er wird darüber hinwegkommen.« Cam hatte jetzt zugemacht und ließ nicht zu, daß sie ihn hervorlockte.
»Darüber hinwegkommen?« Ihr plötzlich aufwallender rasender Zorn ließ sie beinahe stammeln. Dann brachen die Worte in einem heftigen Schwall aus ihr hervor, wobei sich der Schmerz in ihren Augen vertiefte. »Weil Sie es so wollen? Weil Sie es ihm sagen? Wissen Sie, wie das ist, mit dieser Todesangst leben zu müssen? Mit dieser Scham? Sie in sich zu verschließen? Und jedesmal, wenn ein Mensch, den Sie lieben, Sie im Arm halten will, kleine Tropfen dieses Gifts entweichen?«
Sie riß die Wagentür auf und warf ihre Aktenmappe auf den Beifahrersitz. »Ich schon. Ich weiß es genau.« Er packte sie am Arm, noch bevor sie einsteigen konnte.
»Nehmen Sie Ihre Hände weg!«
Da sie am ganzen Leib zitterte, gehorchte er. An irgendeinem Punkt des Streits war ihr beruflicher Unwille in persönliche Wut umgeschlagen. Er hatte den Übergang nicht mitbekommen.
»Anna, ich lasse Sie nicht ans Steuer dieses Wagens, solange Sie derart außer sich sind. Vor kurzem habe ich einen Menschen verloren, der mir viel bedeutete, und ich will das gleiche nicht noch mal durchmachen.«
»Mir geht’s bestens.« Nachdem sie diese Worte hervorgestoßen hatte, atmete sie tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich bin durchaus imstande, nach Hause zu fahren. Falls Sie irgendwann daran interessiert sein sollten, rational über die Inanspruchnahme professioneller Hilfe zu diskutieren, können Sie mich in meinem Büro anrufen und einen Termin mit mir vereinbaren.«
»Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang? Dann können wir uns beide abkühlen.«
»Ich bin abgekühlt.« Sie stieg in ihr Auto und klemmte ihm beinahe die Finger ein, als sie die Tür zuschlug. »Aber
Sie können ja einen machen, direkt von der Kaimauer hinunter ins Wasser.«
Er fluchte, als sie davonfuhr, dachte flüchtig daran, ihr zu folgen, sie aus dem Wagen zu zerren und zu verlangen, daß sie diesen blöden Streit beilegten. Sein nächster Gedanke war, ins Haus zurückzugehen und das Ganze zu vergessen. Sie zu vergessen.
Aber er erinnerte sich an den verletzten Ausdruck in
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