Mein ist der Tod
I
Das Marienherz
EIN WUNDER!
Der Schrei der Frau hallte über den Platz vor der Aegidiuskirche und flog über die Dächer der kleinen Stadt. Die Bewohner von Zungen an der Nelda waren an diesem Freitag auf ein Wunder so wenig vorbereitet wie auf ein Erdbeben. An der Barockfassade der Kirche hielten sich noch die Lichtfarben des Sonnenaufgangs, die im Himmel schon vergangen waren.
Die Frau in einem dünnen, grauen Kleid hatte sich ihre rote Strickjacke um den Kopf geschlungen, die Ärmel schwangen vor ihrem Gesicht hin und her, während sie mit geschlossenen Augen am Fuß ihres langen Schattens über die Platten aus Sandstein tanzte, als hielte es sie nicht mehr am Boden.
Sie hatte das Herz der Schmerzensmutter in der Kirche bluten sehen.
Ein paar Halbwüchsige auf ihrem Weg zum Eichendorff-Gymnasium am Ludwigsbühel lachten über die Tänzerin, die Arme und Gesicht zum Himmel hob und unablässig mit schriller Stimme verkündete:
Ein Wunder! Oh, die Güte des Herrn! Ein Wunder!
Die Schüler liefen schneller am Kirchenportal vorüber, als sei ihnen die hysterische Tänzerin unheimlich, und verließen den Platz, der aus längst vergessenen Gründen Kranzplatz genannt wurde.
An diesem Aprilmorgen, der als Beginn eines Albtraums in die Geschichte des Ortes eingehen sollte, wies der Himmel blaue Löcher im Wolkengrau auf, während über dem Horizont ein unerklärlicher Streifen von Dunkelheit stand, so, als hielte sich dort ein Rest der Nacht.
Die von Gottes Güte Beglückte schrie weiter, sah hinter ihren geschlossenen Lidern das Licht himmlischer Freude, hob die Hände zur Anbetung, drehte sich schneller, verfing sich plötzlich in den Schlingen ihrer Schritte, stolperte, die rote Strickjacke flog vom Kopf und fiel zu Boden. Die Frau taumelte, stand einen Augenblick still, sank auf ihre nackten Knie, legte die Hände zum Gebet aneinander und verharrte in ihrer Andacht.
Ein Jogger, an der Westseite der Kirche von der Prannburg herunterkommend, erreichte den Platz und lief auf die Kniende zu. Er streifte seine Kapuze zurück, legte seine Hände an die Schultern der Frau und hob sie langsam auf, umarmte sie und hielt sie fest. Auffällig an dem jungen Mann in der üblichen schwarzen Joggerkleidung war seine Frisur: Schläfen und Nacken waren hoch geschoren, das schwarze Haar darüber nur als gelockter Ring erhalten, in dessen Mitte der Kopf kahl rasiert war. Diese römische Tonsur gab seinem hageren Gesicht das Aussehen eines mittelalterlichen Mönchs. Wer sich in der Kirchengeschichte auskannte, wusste, dass die auffällige Haartracht seit dem siebten Jahrhundert allen Geistlichen vorgeschrieben war. Rund tausendvierhundert Jahre später wirkte sie bei dem jungen Mann befremdlich, und hätte er die Frau, die kurz zuvor in Ekstase auf dem Kranzplatz getanzt hatte, nicht so behutsam in den Armen gehalten, wären Passanten, die jetzt über den Platz liefen, misstrauisch geworden und stehen geblieben. Sie schienen aber nicht beunruhigt zu sein oder wussten vielleicht, dass es sich bei dem Paar um Mutter und Sohn handelte:
Frank Züllich hielt seine Mutter Verena fest und sprach beruhigend auf sie ein.
Sie hatte sich das Wunder in der Kirche nicht eingebildet. In der ersten Apsis links vom Altarraum zog sich über den himmelblauen Mantel der fast menschengroßen Marienfigur aus dem siebzehnten Jahrhundert ein Blutfaden und speiste eine kleine Pfütze zwischen den rosa lackierten nackten Füßchen. Seit jeher hatte die Maria vom Brennenden Herzen an einer silbernen Halskette ihr Glasherz getragen. Jährlich am Karfreitag wurde das Licht darin entzündet und nach Christi Himmelfahrt wieder gelöscht. Doch nun hatte sich die rubinfarbene Öllampe vor der Brust der Gottesmutter in einen dunkel glänzenden Muskel verwandelt, der zu trocknen begann.
Und Verena Züllich, gerade neunundvierzig geworden, verwitwet und mit ihrem Sohn Frank in einem kleinen Haus am Höllacker gegenüber der Brauerei Sinzinger lebend, täglich von Schnäpsen, nächtlich von einer, oft zwei Flaschen Wein getröstet, fühlte sich gebenedeit unter den Weibern.
Maria war Fleisch geworden und hatte sie auserwählt, den Menschen das Zeichen zu verkündigen.
Dieser Frühling trug kein neues Leben, sondern neuen Tod in die Stadt, die seit fast einem Jahrtausend für ihre Insellage zwischen den Flüssen bekannt war: Zungen an der Nelda – so auf den Karten verzeichnet, obwohl der Fluss, der den Stadtnamen schmückte, erst am spitzen Ende ihrer
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