Tiefer Schmerz
saß und sich zu erinnern versuchte, wie er die Verteilung von fünf Wassermelonen auf sieben Personen unterschiedlicher Größe hatte vornehmen wollen, stellte sich der Gedanke an Onkel Pertti ein. Ein Gedanke, der ihm Dankbarkeit eingab – und ein schlechtes Gewissen.
Er hatte fast vergessen, daß der Alte noch lebte. Und jetzt lebte er nicht mehr.
Onkel Pertti war eigentlich der Onkel seiner Mutter, und in seiner Jugend war Onkel Pertti eine stets gegenwärtige Legende gewesen. Der Held des Winterkriegs. Der Arzt, der einer von den Großen in Mannerheims Armee wurde.
Arto Söderstedt hatte selbst keine Geschwister – wahrscheinlich war das der Grund dafür, daß er mit seiner ebenso geschwisterlosen Frau fünf Kinder in die Welt gesetzt hatte – und seine finnlandschwedische Familie war minimal. Seine geschwisterlosen Eltern waren seit langem tot, und andere Verwandte gab es nicht. Folglich gab es keinen anderen Erben.
Arto Söderstedt fuchtelte mit dem Messer und dachte: fünf geteilt durch sieben, hmm, 0,714 Wassermelone pro Person, vorausgesetzt, daß alle gleich viel bekommen sollen, wenn man aber nach Körpergewicht ginge …
Er hielt inne und betrachtete seine beschattete Großfamilie, die ihrerseits, immer grämlicher, das passive Messer betrachtete. Waren dies wirklich würdige Erben des großen Winterkriegshelden Pertti Lindrot, des Siegers bei Suomussalmi, eines der Architekten der berühmten Motti-Taktik, die die Truppen der an Straßen gebundenen Roten Armee aufrieb, indem sie sie durch den Wald in kleinere Einheiten aufsplitterte, die eine nach der anderen umzingelt und niedergekämpft wurden?
»Schneide sie doch einfach in Stücke«, sagte seine Zweitälteste Tochter Linda ungeduldig.
Arto Söderstedt warf ihr einen gekränkten Blick zu. So schlampig führte er seine Aufträge wahrlich nicht aus. Nein. Arto wog fünfundsechzig Kilo, Anja ungefähr genausoviel, Mikaela vierzig, Linda fünfunddreißig, Peter genausoviel, Stefan fünfundzwanzig und die kleine Lina zwanzig. Zusammen zweihundertfünfundachtzig Kilo. Davon müßten also dreiundzwanzig Prozent, fünfundsechzig geteilt durch zweihundertfünfundachtzig, an jedes Elternteil gehen. Dreiundzwanzig Prozent von fünf Melonen sind …
»Schneide sie einfach in Stücke«, echote die kleine Lina.
… sind eins Komma fünfzehn Melonen. Mehr als eine Melone für jedes Elternteil. Hatte er sich die Verteilung ernsthaft so vorgestellt?
Das Messer blieb passiv. Die Familie nicht. Dann gäbe es nur null Komma fünfunddreißig Melonen für die kleine Lina, und das kam ihm nicht gerecht vor.
Gerecht.
War es gerecht, daß er, der sich auf das abenteuerlichste in Schulden gestürzt hatte, um ein großes Familienauto anzuschaffen, von heute auf morgen dieses Auto nicht nur ganz bezahlen konnte, sondern noch so viel übrig hatte, daß er umgehend, ohne die Familie zu informieren, ins Internet ging und für zwei Monate ein Haus in der Toskana mietete?
Nein, nicht besonders gerecht.
Aber was war schon gerecht im Leben?
Bestimmt nicht null Komma fünfunddreißig Melonen für die Kleinste, dachte er mit plötzlicher Entschiedenheit und schnitt die Melone in Stücke, die er ganz und gar gerecht zwischen den Familienmitgliedern verteilte.
Fast eine Million. Wer hätte ahnen können, daß der alte Onkel Pertti, dessen Existenz er vergessen hatte, auf solchen Ersparnissen saß? Mit dem Geld kamen die Erinnerungen, und Arto Söderstedt erinnerte sich eigentlich nur an einen stinkenden Mund und halb verfaulte Zähne. An einen Helden, mit dem es abwärts gegangen war, dessen Heldenglorie aber noch immer glasklar strahlte. Er hatte sozusagen recht damit, daß es mit ihm abwärts ging, so verstand er das hochtrabende Gerede seiner Eltern. Er hatte stets den Eindruck gehabt, daß sie es waren, seine Eltern, die den letzten verbliebenen Familienangehörigen versorgten. Und dann zeigte es sich. Daß er auf einer Million saß. Finnmark.
Nichts ist genau das, was es zu sein scheint.
Nach seiner Rekonstruktion mußte Onkel Perttis Lebenslauf ungefähr folgendermaßen ausgesehen haben: Junger enthusiastischer Landarzt wird nach dem ziemlich abrupten Angriff der Sowjetunion in den finnischen Winterkrieg hineingezogen. Er beweist großes Talent für den Guerillakrieg in winterlichen Wäldern und wird mehrfach befördert. Nach einigen entscheidenden Schlachten wird er zum Helden und verschwindet beim Sieg der Russen in den Wäldern wie ein klassischer Guerillero.
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