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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Dunkel.
    Er fummelt die Pistole aus dem Schulterhalfter. Hängt mit der einen Hand am Zaun und schießt mit der anderen. Er schießt in alle Richtungen. Wahllos. Dumpfe Schüsse in den Urwald. Keine Erwiderung. Keine Reaktion. Das Gleiten um ihn her geht weiter. Unverändert. Unerschrocken. Unbezwinglich.
    Er schiebt irgendwie die Pistole zurück ins Halfter, noch ein paar Schuß übrig, eine letzte Sicherheitsmaßnahme, und die Nähe der Schatten verleiht ihm übermenschliche Kräfte, jedenfalls ist er selbst der Meinung, als er sich hoch und nach außen hebt und den Stacheldraht packt, der über dem Zaun in einem nach außen weisenden Winkel verläuft.
    Übermenschliche Kräfte, denkt er mit einem ironischen Lächeln, windet die Drahtstacheln aus den Händen und schwingt sich hinüber.
    Jetzt aber, denkt er, als er hinunter ins Grüne auf der anderen Seite des Zauns springt. Gleitet darüber, ihr da.
    Und sie tun es. Er spürt sofort ihre Nähe. Er erhebt sich aus dem Gebüsch, in dem er gelandet ist, und starrt geradewegs in ein paar schräge gelbliche Augen. Er schreit unvermittelt auf. Spitze Ohren richten sich über den Augen auf, und darunter wird eine Reihe nadelspitzer Zähne entblößt. Ein Tier, denkt er und wirft sich zur Seite. Direkt vor ein anderes, ebensolches Tier. Die gleichen schrägen gelblichen Augen, die eine ganz andere Welt sehen als er. Urzeitaugen. Und als er weiter durch das Waldgelände stürzt, ist es vor der Eiszeit.
    Wölfe, schießt es ihm plötzlich durch den Kopf. Herr Gott, sind das nicht Wölfe?
    Ist das hier eine Stadt? schreit es in seinem Innern. Wie zum Teufel kann das hier eine Großstadt in Europa sein?
    Er klimpert. Sein Weg ist eine geräuschvolle Autobahn. Er packt die dicke Goldkette, reißt sie sich vom Hals und wirft sie in die Vegetation. Hinaus in die Natur.
    Er erreicht eine Mauer, und mit seinen blutigen, pochenden Fingerspitzen, die den Schmerz durch den Körper pulsieren lassen, findet er sogleich Halt, und wie ein Bergsteiger klettert er die senkrechte Mauer hinauf, er hievt sich hinüber, über einen Zaun auf der Mauerkrone, und unter ihm ist die Natur wie in gleitende Schatten gehüllt, die Bäume scheinen sich zu bewegen, ein Wald, der sich nähert, die stillstehenden Wölfe scheinen mit ihrer gesammelten Urzeitgleichgültigkeit an dem Gleiten teilzuhaben. Und er bekommt die Pistole hoch, und er schießt auf die Tiere, auf die von gleitenden Schatten erfüllte Natur. Nichts verändert sich. Nur daß die Pistole klickt. Er wirft sie nach den Schatten. Sein Gesichtsfeld ist außer Funktion. Er weiß nicht, was sie getroffen hat.
    Er ist oben auf einem Weg. Asphalt. Endlich Asphalt. Und er hetzt weiter eine Anhöhe hinauf, und von überall her starren Tiere ihn an, dunkel, gleichgültig, und Gestank und Geräusche füllen die pfeifende Luft, und er versucht einen Namen zu finden für diese gleitenden Schattenwesen, die ihn verfolgen und die nie, nie, nie aufzugeben scheinen.
    Namen beruhigen.
    Furien, denkt er, während er läuft. Gorgonen, Harpyien. Nein, falsch. Nein, wie heißen sie noch? Rachegöttinnen?
    Und plötzlich versteht er, daß es tatsächlich Rachegöttinnen sind. Daß es tatsächlich Göttinnen der Rache sind, die Fliegen, die unbezwingbaren Urzeitgottheiten. Die weibliche Rache. Aber wie hießen sie noch? Mitten im Wahnsinn sucht er einen Namen.
    Namen beruhigen.
    Er läuft und läuft, doch es ist, als käme er nicht vom Fleck. Er läuft auf einem Rollband, er läuft in klebendem Asphalt. Und sie sind da, sie nehmen Gestalt an, sie gleiten weiter, aber werden zu Körpern. Er glaubt, daß er sie sieht. Er fällt. Wird gefällt.
    Er fühlt, wie er hochgehoben wird. Es ist stockdunkel. Urzeitdunkel. Der eisige Wind heult. Sein Körper dreht sich. Oder dreht er sich nicht? Er weiß nicht. Plötzlich weiß er nichts mehr. Plötzlich ist alles zu einem namenlosen, unstrukturierten Chaos geworden. Alles, was er tut, ist, einen Namen zu suchen. Den Namen von mythischen Wesen. Er will wissen, wer sie sind, die ihn töten.
    Und er sieht ein Gesicht. Vielleicht ist es ein Gesicht. Vielleicht sind es viele. Frauengesichter. Rachegöttinnen.
    Und er dreht sich. Alles steht auf dem Kopf. Er sieht zwischen seinen Füßen den Mond hervorkommen. Er hört die Sterne in Lichtjahrgesang ausbrechen. Und er sieht das Dunkel sich verdunkeln.
    Jetzt sieht er ein Gesicht. Es steht kopf. Es ist eine Frau, die alle Frauen ist, denen er je etwas angetan, die er

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