Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
I
Er kommt am Tage des Herrn. Obwohl mein Vater es nicht für nötig erachtet hat, mir das mitzuteilen, bin ich im Bilde.
Sie nahmen an, ich schliefe, so wie ich es jede Nacht tue, während mein Vater und Makepeace auf der anderen Seite des Vorhangs, der unsere Schlafkammern trennt, noch eine Weile miteinander flüstern. Meistens ist ihr leises Murmeln für mich ein tröstliches Geräusch, doch vergangene Nacht erhob Makepeace die Stimme und wurde so heftig und wütend, dass mein Vater ihn zurechtweisen musste. Vermutlich war es das, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte, denn eigentlich verabscheut mein Bruder derart heftige Gefühlsausbrüche. Ich drehte mich auf meinem Lager herum und fragte mich, vom Schlaf benommen, was ihn wohl so aufgebracht hatte. Was mein Vater sagte, konnte ich nicht hören, doch dann erhob mein Bruder erneut die Stimme.
»Wie kannst du Bethia einer solchen Gefahr aussetzen?«
Natürlich war in dem Moment, als mein Name fiel, nicht mehr an Schlaf zu denken; ich war hellwach. Ich hob den Kopf und versuchte noch mehr aufzuschnappen, was auch nicht schwer war, weil Makepeace seine Zunge nicht zu zügeln vermochte, und obwohl ich nicht hören konnte, was mein Vater sagte, waren die Antworten meines Bruders deutlich zu vernehmen.
»Was hat es schon zu bedeuten, dass er betet? Es ist – soweit ich weiß − noch nicht einmal ein Jahr her, dass er dem Heidentum abgeschworen hat, und der Mann, der ihn lange in seiner Obhut hatte, ist ein Knecht Satans. Der Halsstarrigste und Gefährlichste von allen, wie du selbst oft genug gesagt hast …«
Vater fiel ihm ins Wort, doch Makepeace ließ sich den Mund nicht verbieten.
»Natürlich nicht, Vater. Ich will seine Fähigkeiten gar nicht in Frage stellen. Doch nur weil ihm das Lateinische leichtfällt, bedeutet das noch nicht, dass er weiß, welches Benehmen in einem christlichen Zuhause von ihm erwartet wird. Das Risiko ist einfach …«
In diesem Moment begann Solace zu schreien, und ich beruhigte sie. Die beiden merkten, dass ich wach war, und sagten nichts mehr. Doch es war schon genug gesagt worden. Ich wickelte Solace gut ein und zog sie auf dem Bett zu mir heran. Sie schmiegte sich an mich wie ein Vogelkind im Nest und schlief wieder ein. Ich lag wach, starrte in die Dunkelheit und strich mit der Hand über die raue Kante des Deckenbalkens, der in Armeslänge über meinem Kopf verlief. Noch fünf Tage, dann würden wir unter dem selben Dach leben.
Caleb wird bei uns wohnen.
Am nächsten Morgen sprach ich nicht über das, was ich mit angehört hatte. Das Lauschen – anders als das Sprechen – ist mir schon lange zur Natur geworden, und ich bin höchst geübt darin. Es war meine Mutter, die mich gelehrt hat zu schweigen. Als sie noch lebte, hat wohl kaum mehr als ein Dutzend Menschen in dieser Siedlung jemals ihre Stimme gehört. Es war eine angenehme Stimme, leise und weich, mit einem Hauch jenes Dialekts aus dem Dorf in Wiltshire, England, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Oft lachte sie, sang uns Kinderreime aus ihrer alten Heimat vor und erzählte uns von Dingen, die wir nie gesehen hatten: Kathedralen und Kutschen, breite Flüsse, so groß wie unser Hafen, und ganze Straßen voller Läden, in denen jeder, der genügend Geld in der Börse hatte, alle möglichen Waren erwerben konnte. Doch das geschah nur innerhalb des Hauses, wenn wir als Familie beisammen waren. Draußen hingegen sah man sie nur mit gesenktem Blick und versiegelten Lippen. Sie war wie ein Schmetterling: bunt und vibrierend, wenn sie beschloss, die Flügel auszubreiten, doch kaum sichtbar, wenn sie sie zuklappte. Ihre Bescheidenheit war wie ein Mantel, den sie sich umhängte, und wenn sie so, mit Demut und Bescheidenheit bekleidet, in der Welt umherging, schien sie von den Menschen gar nicht bemerkt zu werden, ja, bisweilen sprachen sie gar in ihrer Anwesenheit über sie, als wäre sie nicht da. Später, bei Tisch, wenn die Angelegenheit für Kinderohren taugte, berichtete sie über dies oder das, was ihr wichtig erschien, oder sie wartete mit allerhand Neuigkeiten über unsere Nachbarn auf. Oft war das, was sie zu berichten wusste, unserem Vater für sein geistliches Amt oder Großvater für seine Tätigkeit als Richter dienlich.
Im Lauschen und Beobachten eiferte ich meiner Mutter nach, und auf diese Weise erfuhr ich auch, dass ich sie verlieren würde. Unsere Nachbarin Goody Branch, die hiesige Hebamme, hatte mich in ihr Häuschen geschickt, um mich mehr von
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