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Tiere essen

Tiere essen

Titel: Tiere essen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Einzige, den die immer aufs Neue verblüffende Erscheinung dieser Fische fasziniert. (Unser Wunsch, sie zu betrachten, hat zur Folge, dass Millionen von ihnen in Aquarien und für den Souvenirhandel sterben.) Und genau diese ästhetische Einzigartigkeit ist der Grund, warum ich mich hier mit ihnen beschäftige, während ich viele andere Tiere nicht erwähne – Tiere, die für dieses Buch eigentlich relevanter wären. Seepferdchen sind nun einmal ein Extrem des Extrems.
    Mehr als die meisten anderen Tiere erstaunen uns Seepferdchen, weil sie unsere Aufmerksamkeit auf die überraschenden Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vielen verschiedenen Lebewesen lenken. Sie können, um sich ihrer Umgebung anzupassen, die Farbe wechseln und mit ihrer Rückenflosse beinahe so schnell schlagen wie ein Kolibri mit seinen Flügeln. Weil sie weder Zähne noch einen Magen haben, rutscht die Nahrung fast auf der Stelle durch sie hindurch, weshalb sie ständig fressen müssen. (Daher auch Adaptationen wie die Augen, die sich unabhängig voneinander bewegen. Das ermöglicht ihnen, nach Beute zu suchen, ohne den Kopf zu drehen.) Sie sind keine besonders guten Schwimmer und können schon in einer schwachen Strömung vor Erschöpfung sterben. Deshalb verankern sie sich lieber an Seegräsern, Korallen oder anderen Seepferdchen – sie schwimmen gern paarweise, die Greifschwänze ineinander verschlungen. Seepferdchen haben komplizierte Werberituale, paaren sich gern bei Vollmond und geben dabei musikalische Laute von sich. Sie leben in langfristigen monogamen Partnerschaften. Aber das Ungewöhnlichste ist vielleicht, dass bei den Seepferdchen das Männchen »trächtig« wird und die Jungen bis zu sechs Wochen in der Bauchtasche austrägt. Sie versorgen sie in dieser Zeit auch mit Nährstoffen. Immer wieder überwältigend ist der Anblick von gebärenden Männchen: Eine Wolketrüber Flüssigkeit schießt aus der Bruttasche, und wie durch Zauberei tauchen plötzlich daraus winzige, voll ausgebildete Seepferdchen auf.
    Meinen Sohn hat das nicht beeindruckt. Wir dachten, ihm könnte das Aquarium gefallen, aber er hatte Angst und wollte die ganze Zeit nach Hause. Vielleicht sah er in den stummen Gesichtern der Meerestiere etwas, das mir entging. Wahrscheinlich aber hatte er mehr Angst vor dem klammen Halbdunkel, dem gurgelnden Rauschen der Pumpen oder der Menschenmenge. Ich dachte mir, wenn wir nur oft genug ins Aquarium gingen und lange genug blieben, würde er letztendlich merken, dass er eigentlich gern dort war. Doch das passierte nicht.
    Allmählich beschlich mich im Aquarium, als Autor mit der Kafka-Geschichte im Hinterkopf, eine gewisse Scham. Das Spiegelbild in den Becken war nicht das von Kafka. Es gehörte einem Autor, der, wenn man ihn mit seinem Helden verglich, nicht im Geringsten an ihn heranreichte. Und als Jude in Berlin empfand ich noch andere Formen von Scham. Dazu kam die Scham, dass ich Tourist war und, als immer mehr Fotos von Abu Ghraib auftauchten, dass ich Amerikaner war. Und da war die Scham, Mensch zu sein: die Scham, dass 20 der rund 35 klassifizierten Seepferdchenarten weltweit vom Aussterben bedroht sind, weil sie bei der Fischproduktion »unabsichtlich« sterben. Die Scham über das willkürliche Töten, das nicht auf ernährungsbedingter Notwendigkeit oder politischer Veranlassung oder irrationalem Hass oder unlösbaren menschlichen Konflikten beruht. Ich schämte mich für die Tode, die meine Kultur mit etwas so Geringem wie dem Geschmack von Dosenthunfisch rechtfertigt (Seepferdchen sind eine von über 100 Meerestierarten, die in der modernen Thunfischindustrie als »Beifang« getötet werden) oder damit, dass Garnelen als Horsd’œuvre so praktisch sind (der Garnelenfang wirkt sich auf die Seepferdchenpopulationen verheerender aus als alles andere, was der Mensch auf See veranstaltet). Ich schämte mich, dass ich in einem Land von beispiellosem Wohlstand lebte – einem Land, das einen kleineren Prozentsatz seines Einkommens für Nahrung ausgibt als jede andere Zivilisation in der menschlichen Geschichte –, das aber im Namen der Erschwinglichkeit die Tiere, die es isst, über Maßen grausam behandelt. Wären es Hunde, wäre das eine Straftat.
    Und niemals schämt man sich mehr als durch eigene Kinder. Kinder konfrontieren uns mit unseren Paradoxien und Heucheleien, und wir sind ihnen ausgeliefert. Auf jedes »Warum« muss man eine Antwort finden – Warum tun wir dies? Warum tun wir nicht jenes? –,

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