Tijuana Blues
Fremde bist du.‹ Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Du bist noch nicht aus dem Auto ausgestiegen, und schon spekulierst du herum. Entspann dich!«
Morgado konnte die ersten ›alten‹ Gebäude von Mexicali erkennen. Keines war älter als fünfzig Jahre. »Das sieht genau so aus wie früher.«
»Du kommst mir vor wie ein Schüler in Disneyland.«
»Was willst du? Ich bin immer noch der kleine Junge mit dem Ranzen auf dem Rücken.«
»Komm, nun sei mal nicht so wehmütig, und genieß die Stadt, wie sie jetzt ist. Das ist nicht schlechter als vorher.«
»Abreißen und neu bauen, dann wieder abreißen und wieder neu bauen und immer so fort bis in alle Ewigkeit, wie in der Hauptstadt.«
»Das ist die Moderne, compañero. Die Stadt wächst nach allen Seiten, ohne Plan, ohne Maß. Aus der Luft sieht sie wie ein platt gedrückter Hut aus, wenn du richtig hinschaust.«
»Und die Gringos? Sind sie immer noch so freundlich?«
»Nein, die Zeiten sind vorbei. Jetzt holen die von der migra bei jeder noch so kleinen Gelegenheit die Pistole heraus, ballern wild um sich und verkünden, sie seien unverstandene Schäflein, die nur ihre Pflicht erfüllen. Ihr schönes, sauberes und demokratisches Land vor lateinamerikanischer Verseuchung zu schützen.«
»Ich habe schreckliche Sachen in der Presse gelesen.«
»Ich will ja nicht übertreiben. Hier in dieser Gegend hütet sich die migra eher, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Weil es auf der anderen Seite viele Mexikaner gibt, ist es für sie nicht opportun, ihre Wähler vor den Kopf zu stoßen. Aber zwischen Tijuana und San Diego liegen die Dinge anders. Da wird geballert, was das Zeug hält. Es gibt viele Rassisten. Und viele Tote auf unserer Seite.«
Der Verkehr wurde stärker, als sie in das Stadtzentrum kamen. Die ersten fahrenden Händler und amerikanischen Touristen bevölkerten die Straßen. Wie schon so oft dachte Morgado, dass Mexicali keine tiefen Wurzeln hatte, dass die ganze Vergangenheit an der Oberfläche schwebte.
»Und mein Vater? Wie geht es ihm?«
Atanasio fluchte, weil ihm ein Wagen den Weg versperrte, und kam dann erst wieder auf Morgados Frage zurück. »Deinem Vater geht es gut. Ich habe ihn letzte Woche im Altenheim besucht. Er wird sich freuen, dich zu sehen.«
»Glaub nicht, dass ich bloß deinetwegen hierher gekommen bin. Ich war ziemlich lange weg.«
»Du erinnerst dich nicht gern daran, wo du herkommst.«
»Jetzt werd nicht fies. Ich habe einfach keine angenehmen Erinnerungen an Mexicali.«
»Entschuldige. War nur ein Scherz.«
Morgado betrachtete die Autoschlangen, die darauf warteten, über die Grenze zu kommen. »Ich weiß. Aber es tut immer noch weh.«
»Ach, jetzt werde nicht pathetisch«, scherzte Atanasio. »Oder hast du vielleicht keine netten Erinnerungen an die Mädchen von hier?«
Sie kamen kurz vor zehn im Hotel Del Norte an.
»Es wird dir gefallen. Sie haben es komplett umgebaut. Geh rein und sieh selbst. Als ob du in einem Film der Vierzigerjahre bist. Es fehlen nur noch Ingrid Bergman und Humphrey Bogart, damit es dir echt vorkommt.«
Atanasio hatte Recht. Das Hotel war reines Hollywood, eine Kulisse.
»Weil dein Flugzeug ein wenig Verspätung hatte, muss ich dir bedauerlicherweise mitteilen, dass Teresita Sifuentes, verwitwete González, bereits seit einer halben Stunde auf uns wartet. Also lass den Pagen die Koffer auf dein Zimmer bringen, und dann machen wir uns gleich auf den Weg. Du wirst schon noch Zeit haben, dich in die Sonne zu legen und auszuruhen.«
»Erzähl mir genau, um was es geht«, bat Morgado. »Am Telefon wolltest du nicht darüber sprechen. Du hast nur gesagt, sie hätten einen Freund von dir erledigt.«
»Am besten sage ich dir nichts. Du sollst alles direkt aus dem Mund der Witwe hören, damit du ohne Vorurteile deine eigenen Schlussfolgerungen ziehen kannst …«
»Es ist eine Drogengeschichte, oder?«
Atanasio seufzte müde. »Wenn es nur so wäre.«
5
»Was gibt es sonst noch zu erzählen?«, sagte die Witwe zu Morgado. »Alles in allem war er ein guter Mensch.«
Das Haus war ein glühender Ofen. Ein cooler summte, ohne die Temperatur auch nur minimal reduzieren zu können, aber das schien der Trauer tragenden Frau nichts auszumachen, die die Lebensgeschichte ihres verstorbenen Mannes herunterbetete, als hätte sie sie schon tausendmal wiederholt. »So war mein Heriberto. Ein Spieler, ein Schürzenjäger, ein guter Vater und ein guter Ehemann. Nichts Besonderes.«
Morgado wusste
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