Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Verbindung zwischen Autor und Werk.
»Woher nehmen Sie Ihre Ideen?«, höre ich wohl am häufigsten, gefolgt von: »Ist das autobiografisch?«
Letzteres wird auch ab und zu dann gefragt, wenn ich aus meiner Fantasy-Trilogie Der Drachenflüsterer gelesen habe. Irgendwer lacht dann immer, weil das so klingt, als würde ich täglich auf Drachen fliegen und mich mit einem Ritterorden anlegen. Aber so verkehrt ist die Frage nicht.
Wir Autoren stecken in unseren Geschichten, doch wir müssen nicht alles selbst genauso erlebt haben. Es sind unsere Träume, Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Gedanken und unsere Weltsicht, und diese werden durch unser Leben geprägt.
»Wie viel von Ihnen steckt also in Timpetill , Herr Winterfeld?«
Sehr gerne hätte ich ihn das gefragt, ganz besonders in einer Hinsicht: Auffallend an dem Roman ist der fast schon verzweifelte Kampf um die Aufrechterhaltung der Ordnung, während die rebellischen Piraten so negativ dargestellt werden. In heutigen Romanen gelten Piraten meist als sehr viel cooler, Streiche sind eher lustig als bedenklich, und selbst Helden wie Harry Potter, die für das Gute kämpfen, brechen dafür eine Schulregel nach der anderen.
Aber auch damals, zu Beginn der 1930er-Jahre, gab es schon Ludwig Thomas Lausbubengeschichten , Oskar Maria Grafs derbe Jugenderinnerungen Dorfbanditen und rebellische Helden wie Robin Hood. Allein am Zeitgeist kann es demnach nicht liegen. Warum also legte gerade Henry Winterfeld in Timpetill so viel Wert auf die gesellschaftliche Ordnung und ihren Erhalt?
Dafür lohnt es sich, einen Blick auf sein Leben und besonders das Jahr 1933 zu werfen, in dem er sich die Geschichte über die Stadt ohne Eltern für seinen scharlachkranken Sohn Thomas ausdachte.
Henry Winterfeld wurde am 9. April 1901 in Hamburg als zweiter Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war der Komponist und Dirigent Max Winterfeld, der sich den Künstlernamen »Jean Gilbert« zulegte. Henry hatte einen anderthalb Jahre älteren Bruder namens Robert. Die Winterfelds waren arm, manchmal reichte das Einkommen nicht einmal, um zu heizen, obwohl Henrys Mutter Rosa Hüte nähte, um etwas dazuzuverdienen. Jean Gilbert hatte wechselnde Anstellungen als Kapellmeister, unter anderem dirigierte er auch eine Zirkuskapelle, und Henry und Robert streunten als kleine Kinder zwischen den Tieren umher. Sie spielten in der Manege, ritten auf Elefanten, und nach Roberts Erinnerung hat Henry gern eine schlafende Giraffe geherzt, bis sie einmal plötzlich aufstand und Henry an ihrem Hals hoch in der Luft hing. Danach war er vorsichtiger im Umgang mit ihr. Trotz der Armut waren die Kinder glücklich.
Ab dem Jahr 1910 verbesserte sich die finanzielle Lage der Familie plötzlich und außerordentlich. Jean Gilbert hatte mit seiner Operette Die keusche Susanne und dem Schlager Püppchen, du bist mein Augenstern durchschlagenden Erfolg, und das Geld floss. Die ganze Familie zog nach Berlin-Wannsee in eine Villa mit einem eigenen Bootshaus am See, einer großen Garage für drei Autos und sogar einem eigenen Schulhaus für den Privatunterricht. Während Robert später die Zeit im Zirkus als glücklichste seiner Kindheit bezeichnete und die teuren Abendessen in der Villa und die prominenten Gäste als snobistisch, blätterte Henry noch als Erwachsener gern im Fotoalbum mit Bildern der Villa und zeigte sie seiner Nichte Marianne.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs 1918 dankte der Kaiser ab und Deutschland wurde eine Demokratie: die Weimarer Republik. Robert begann ebenfalls zu komponieren und engagierte sich politisch bei den Kommunisten; er hatte die Zeit der Armut nicht vergessen und wollte sich für Arbeiter und Arbeitslose einsetzen. Und so schrieb er unter dem Namen »Robert Gilbert« leichte Unterhaltungsmusik, unter dem Namen »David Weber« Arbeiterkampflieder.
Auch Henry wandte sich der Musik zu, doch ihm fehlte das besondere Talent von Vater und Bruder. Seine Erfolge als Musiker waren vergleichsweise bescheiden. Aber er konnte mit Sprache umgehen und so schrieb er neben seiner Tätigkeit als Pianist Theaterstücke und Filmszenen, manchmal auch Texte für Roberts Musik, obwohl der selbst ein guter Lyriker war.
Anfang der 1920er-Jahre heiratete Henry die Nichtjüdin Else, und 1923 kam sein Sohn Thomas zur Welt.
Auch sein Bruder Robert heiratete 1924 eine Nichtjüdin. Die Winterfelds waren kaum religiös, sie fühlten sich in erster Linie als Teil der lebendigen, weltoffenen Künstlerszene
Weitere Kostenlose Bücher