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Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Winterfeld
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mehr als sie nach der Enteignung durch die Nazis besaßen. Trotzdem wollten sie so schnell wie möglich fort, vor allem da Robert für die Kommunisten aktiv gewesen war und er somit doppelt gefährdet war. Also fassten sie im April einen Plan, frei nach dem Motto: Frechheit siegt.
    Die Wienpremiere der Operette Die keusche Susanne von Henrys Vater Jean Gilbert stand unmittelbar bevor, und so beantragte er ein Arbeitsvisum für Österreich, um die Vorbereitungen und den Auftritt selbst vor Ort leiten zu können. Da man ihm die Autos genommen hatte, lieh er sich einen beeindruckenden Wagen und fuhr mit seinen beiden Söhnen an die österreichische Grenze. Sie hatten riesige Angst, da Henry und Robert kein Visum besaßen. Alles hing davon ab, wie die Grenzbeamten reagieren würden. Würden sie Robert aus dem Wagen zerren und als politischen Gegner irgendwo verschwinden lassen? Es kursierten üble Gerüchte, was mit Hitlers politischen Feinden geschehen könnte, bereits seit dem 21. März gab es das politische Konzentrationslager Dachau. Auch Henry fühlte sich alles andere als sicher. Doch sie durften ihre Angst nicht zeigen, und so gaben sie sich so entspannt wie möglich.
    »Wo sind die fehlenden Visen?«, fragten die Beamten, und Jean Gilbert entgegnete: »Ich muss den Österreichern die gute deutsche Kultur nahebringen. Dafür brauche ich meine Söhne an meiner Seite! Ihre Unterstützung ist mir unheimlich wichtig.«
    Großzügig verteilte er Bestechungsgelder und paffte dabei selbstsicher eine fette Zigarre. Gemeinsam mit den Beamten sangen sie Jean Gilberts Hit Püppchen, du bist mein Augenstern , den alle kannten; es war, als wäre man miteinander vertraut. Keiner der Beamten schien ein besonders scharfer Hund zu sein, und so durften sie glücklicherweise die Grenze überqueren.
    Henrys Frau Else war als Nichtjüdin von den Reisebeschränkungen nicht betroffen, ebenso wenig Jean Gilberts zweite Frau Gerda und ihre drei Töchter. Deshalb saßen Else und Thomas nicht mit im Wagen. Es wäre zu riskant gewesen, denn vielleicht hätten die Beamten dann doch zu schnell an eine Flucht gedacht und nicht so leicht ein Auge zugedrückt. Sie nahmen einfach den Zug nach Wien und trafen dort wieder mit den Männern zusammen. Henrys Mutter Rosa war schon Jahre zuvor nach ihrer Scheidung ausgewandert, Roberts Frau und Tochter waren bereits in Frankreich. Die Familie hatte Glück, sie schafften es rechtzeitig aus Deutschland heraus.
    Im selben Jahr jedoch erkrankte Henrys Sohn Thomas an Scharlach und musste das Bett hüten. Um ihn zu unterhalten, dachte sich Henry eine Geschichte aus, die er ihm Stück für Stück erzählte. Diese Geschichte war sein erster Roman: Timpetill – Die Stadt ohne Eltern .
    Ich erinnere mich gut, dass auch meine Eltern mir früher Geschichten erzählt haben. Mein Vater hat meinem Bruder und mir die Abenteuer von einem gewissen Ali mit dem fliegenden Teppich erzählt, wahrscheinlich inspiriert von arabischen Märchen, aber auch von unserer damaligen Begeisterung für Tiere, denn Ali hat überall Tiere für seinen Zoo gesammelt. Er hat uns davon beim gemeinsamen Abspülen oder auf Autofahrten erzählt, um uns die Zeit zu vertreiben.
    Meine Mutter hat mir dagegen Geschichten vom Kasper erzählt. Es kann sein, dass der Name von der bekannten Handpuppe inspiriert war, aber eigentlich hatten die beiden nichts miteinander zu tun. Es ging nie darum, möglichst lustig ein gefräßiges Krokodil zu verdreschen, sondern meine Mutter hat meine Erlebnisse des Tages variiert und notfalls meine schlechten Träume umgedeutet. Sie wollte mir mit den Geschichten Ängste nehmen und beispielhaftes Verhalten zeigen, um mir Mut zu machen. Diese Geschichten erzählte sie mir allein abends am Bett, nicht der ganzen Familie.
    Als Kind habe ich die versteckten erzieherischen Absichten meiner Mutter nicht bemerkt, ich habe die Geschichten nur als Geschichten wahrgenommen. Bemerkte ich doch Parallelen zu meinem Leben, hielt ich das für Zufall, dachte aber natürlich darüber nach.
    Ich bin fest davon überzeugt, dass erzählende Eltern diese beiden Dinge so gut wie immer miteinander verbinden: Sie wollen ihren Kindern fantastische Abenteuer schenken und ihnen zugleich etwas Persönliches mitgeben, ihnen etwas beibringen.
    Henry Winterfeld hätte seinem Sohn bequem irgendein Buch vorlesen können, wenn es nur darum gegangen wäre, mit einem Abenteuer die Zeit totzuschlagen, doch er dachte sich einen ganzen Roman aus.
    Einen

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