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Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Winterfeld
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damaligen Zeit mindestens ebenso entscheidend für diesen Kampf um den Erhalt der Ordnung ist.
    Wer aber bringt die Ordnung durcheinander?
    Es sind die Rabauken um Oskar, die sich selbst Piraten nennen. Natürlich können für die Bezeichnung tatsächliche Piraten als Vorbild gedient haben, waren diese doch meist räuberisch genug. Vielleicht gab es in Berlin auch eine solche Bande, die Thomas das Leben schwer machte, wir wissen es nicht. Und doch können auch hier Anzeichen von Hitlers SA gesehen werden: das mutwillige Zerstören von fremdem Eigentum; sie nehmen sich einfach, was sie brauchen, ohne dafür zu arbeiten, so wie die Nazis das Vermögen der Winterfelds beschlagnahmt haben.
    »Fein! Jetzt gehört die ganze Stadt uns!«, schreit Oskar und zeigt so, dass es ihm um Macht geht. Er will besitzen und herrschen und besticht die anderen Kinder mit geraubten Süßigkeiten. Er ist der Häuptling, dem alle folgen müssen. Im Unterschied zu Thomas, dem Anführer der »Retter in der Not«, wurde er nie gewählt, sondern hat die Macht an sich gerissen. Es kämpfen nicht nur Rabauken gegen brave Kinder, sondern auch Diktatur gegen Demokratie.
    Auffallend ist schließlich auch die Strafe, die das Gericht am Ende über Oskar verhängt: Er soll aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden.
    »Ich glaube, dass die allerschwerste Strafe, die einen Menschen treffen kann, die Ausschließung aus der Gemeinschaft ist. Wir lassen Oskar frei, aber niemand darf mit ihm sprechen, niemand mit ihm spielen. Wir strafen ihn mit Verachtung«, schlägt Thomas vor.
    Bestimmt empfinden viele Kinder und Jugendliche (und auch Erwachsene) eine derartige Ausschließung als furchtbar, aber die Bezeichnung als »allerschwerste Strafe« passt eben auch genau auf das, was die Winterfelds und andere Juden damals erlebten, was Thomas erlebt hatte: Ausgestoßen zu werden.
    Man könnte weiter spekulieren, ob Thomas begeistert von der Technik war, von der Straßenbahn und von Autos, aber dafür lässt sich kein Beleg finden. Viele Jungen waren damals von Technik begeistert, und die Winterfelds besaßen drei Autos zu einer Zeit, da viele Familien keines hatten. Thomas wurde später Ozeanograph, doch das sagt nichts darüber aus, was er mit zehn Jahren mochte. Ich habe mit zehn viel gelesen und Fußball gespielt, und beide Leidenschaften sind mir bis heute geblieben. Doch ich habe auch Briefmarken gesammelt und begeistert mit Soldaten gespielt, wurde aber kein Postbote und habe Zivildienst geleistet. Aus einem Erwachsenen lässt sich nur sehr begrenzt das Kind entschlüsseln, das er einmal gewesen ist.
    Ähnliches gilt auch für die Ursprünge von Ideen und Elementen eines Romans. Dinge werden nicht eins zu eins verschlüsselt. Die Piraten sind keine symbolische SA, ich vermute nur, dass aktuelle Erlebnisse und Beobachtungen in die Beschreibungen einflossen. So entstehen Ideen, bewusst oder unbewusst.
    Am deutlichsten wird das wohl an Oskars Bestrafung: Seine Situation im Roman weist keine Parallelen zu der Situation von Juden im Dritten Reich auf, aber darum geht es nicht. Es geht um Ängste und Gefühle, um den von Thomas und Henry erlebten Schmerz, ausgestoßen zu werden. Im Roman wird die Strafe letztlich auch nicht vollzogen, weil sie zu schlimm ist. Und damit ist die Romanwelt heiler als die Realität.
    Gefühle, Gedanken, Ängste und mehr finden immer wieder den Weg in das Werk eines Schriftstellers, aber oft genug kann er selbst nicht richtig erklären, woher er seine Ideen nimmt, wenn er danach gefragt wird. Die Antwort wäre sein ganzes Leben, mitsamt allem, was er gelesen, gehört, geschaut und geträumt hat. Und das kann man unmöglich in eine einzige Antwort packen, auch wenn ich es hier zumindest ein wenig für Henry Winterfeld versucht habe.
    Als Timpetill unter dem Pseudonym »Manfred Michael« erschien, war es Thomas und auch Marianne gewidmet. Doch die Flucht der Winterfelds war noch nicht zu Ende.
    1935 wurden allen Juden im Deutschen Reich die Bürgerrechte entzogen. Im selben Jahr wurde in Österreich der zwölfjährige Thomas von seinen Klassenkameraden herumgeschubst und grob im Kreis gedreht, bis er hinstürzte. Immer wieder, wenn sie ihn allein antrafen, und nur, weil er Jude war. Auch mit dem Überschreiten der Grenze hatte die Familie den Antisemitismus nicht hinter sich gelassen.
    1938 wurde Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen, und die Winterfelds mussten erneut fliehen. Über die Schweiz gelangten sie nach Paris.

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