Tinnef
kurz vor 13 Uhr angerufen. „Der Letztere.“
„Punkt 21 Uhr.“
Kisch hatte sich vertan. Zudem war es vom Franz-Josefs-Bahnhof noch ein gutes Stück bis in die Herrengasse, was bedeutete, dass er noch eine runde Stunde auf seinen Freund würde warten müssen. Unerfreulich, aber unausweichlich. Bronstein sah sich nach einer Gruppe um, die er bis zum Eintreffen seines Freundes beobachten konnte. Am ehesten, so meinte er, mochte das bei den Schachspielern hingehen, und so erhob er sich, organisierte sich an der Schank ein Achtel Weißwein und ging dann nach hinten, um ein wenig Kiebitz zu spielen. Tatsächlich waren an einem Tisch gerade zwei ältere Männer damit beschäftigt, die Figuren aufzustellen. Na bitte, sein Abendprogramm war gerettet.
Nach einer weiteren Viertelstunde war ihm klar geworden, dass beide Spieler mehr oder weniger gleich stark waren. Die Figurenverluste hielten sich in Grenzen, und die Partie wurde mehr und mehr zu einem hartnäckigen Stellungsspiel. Bronstein verlor das Interesse und wanderte an einen anderen Tisch, wo die Lage schon wesentlich weiter fortgeschritten war. Er erkannte, dass Weiß nur noch hinhaltenden Widerstand leisten konnte, und seine Prognose wurde bald bestätigt. Abermals blickte Bronstein auf seine Uhr. Jetzt, so dachte er, sollte Kisch aber wirklich bald kommen.
Und so war es auch. Kaum eine Zigarette später kam die keuchende Gestalt des Journalisten in der Eingangstür ins Bild. Schon von dort winkte er Bronstein hektisch zu. „Tut … mir … furchtbar leid. Hab mich in der Uhrzeit vertan. Aber vielen Dank, dass du gewartet hast.“
„Aber gerne doch. Ich frage mich doch schon seit Stunden, was du partout so dringend mit mir besprechen willst.“
„Keine Sorge, das wirst du gleich erfahren. Lass mich nur erst ein wenig zu Puste kommen. Herr Ober, einen Pharisäer.“
Als das gewünschte Getränk vor ihm stand und seine Zigarette brennend zwischen seinen Lippen hing, kam Kisch langsam wieder zur Ruhe.
„Also“, begann er, „ich muss dir etwas ganz Merkwürdiges erzählen. Hör zu. Heute in der Früh will ich mir ein Fußballmatch anschauen. Sturm Prag spielt gegen Holeschowitz. Na, das sollte eine klare Sache für uns sein.“
„Uns“ meinte Sturm, das wusste Bronstein von vielfachen Erzählungen. Kisch war wie Bronstein dem englischen Spiel sehr zugetan, doch es wäre nicht Kisch gewesen, wenn er sich darauf beschränkt hätte, bloßer Zuschauer zu sein. Also engagierte er sich beizeiten in seiner Heimatstadt bei einem Verein, eben Sturm Prag, wo er es nach recht kurzer Zeit zum Obmann gebracht hatte. Als solcher wachte er eifrig über seine Schäfchen und sah zu, dass diese bestmögliche Arbeitsbedingungen vorfanden, um ihrem Hobby verhältnismäßig ungestört frönen zu können. Dementsprechend wacker schlug sich Sturm in den diversen böhmischen Ligen. Ganz im Gegensatz zu Union Hole schowitz, wo der Enthusiasmus der Spieler ihre mangelnde Technik nicht wettmachen konnte.
„Was soll ich dir sagen. Wir verlieren. 5 zu 7. Gegen Holeschowitz! Man stelle sich vor! Und weißt du, warum? Weil der Hans Wagner, der unser bester Stürmer ist, einfach nicht auftaucht. Dabei war ich ihm erst vor kurzem in einer delikaten Angelegenheit mehr als behilflich. Dafür hat er mir hoch und heilig geschworen, für unsere Tore zu sorgen. Und gleich beim ersten Match fehlt er.“
Bronstein konnte den Grimm seines Freundes verstehen, doch er vermochte nicht zu erkennen, was ihn das angehen sollte. Kisch war doch wohl kaum über sieben Stunden mit der Bahn nach Wien gefahren, bloß um hier über eine Niederlage auf dem grünen Rasen zu lamentieren.
„Na ich“, fuhr Kisch indessen fort, „auf 180. Ich war fuchsteufelswild. Gleich nach dem Spiel mache ich mich auf die Suche nach Wagner. Und stell dir vor, er kommt gerade nach Hause, als ich ihn aus seiner Wohnung holen will.“
„Dicker Kopf?“, mutmaßte Bronstein.
„Von wegen! Er erzählt mir eine derart haarsträubende Geschichte, dass ich zu dem Schluss komme, dass sie wahr sein muss. Er sagt, er sei in aller Herrgottsfrüh von einigen Prager Militärs aus seiner Wohnung geläutet und mitgenommen worden. Da er von Beruf Schlosser sei, brauche man seine Dienste. Man sei in eine vornehme Gegend Prags gefahren, wo er eine Wohnung öffnen musste. Eine Kleinigkeit, wie er mir versicherte. Jeder versierte Mensch hätte das mit einem Dietrich auch gekonnt, aber die Militärs bestehen darauf, dass er wartet, bis
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