Titan 02
sich, daß er keinen Augenblick zögern würde, sollte sich je eine Gelegenheit bieten, das Unglück seiner Eltern zu vermindern.
Eines Nachts dann, als die Vorahnung der Veränderung ihn so stark überkam, daß er wußte, morgen war es soweit - eines Nachts, als das Haus von einer seltsamen Unruhe erfüllt war, Dielen knarrten und knackten, Wasserhähne tropften und Vorhänge sich geheimnisvoll bewegten, obwohl die Fenster geschlossen waren (was deutlich zeigte, wie nahe in jener Nacht die vielen Geisterwelten einschließlich der Spiegelwelt der wirklichen waren), da kam jene Gelegenheit für Gummiez.
Miez-Miez-Kooomm und Dosenfutter schliefen tief und betäubt - erstere arg mitgenommen von einer heftigen Erkältung, letzterer von einem unseligen Whiskysoda zuviel (Gummiez wußte, daß er sich wegen Sissy Sorgen gemacht hatte). Auch Baby schlief, doch mit unruhigem Wimmern und Strampeln - der Mond schien voll in sein Bettchen, da das Rolleau ohne menschliches oder kätzisches Zutun schnarrend hochgesaust war. Gummiez hielt unter dem Bett Wache, die Augen geschlossen, während sein Geist in größter Aufregung bis in die äußersten Winkel des Hauses vordrang, ja sich selbst hier und da in die anderen Welten vorwagte. In dieser Nacht aller Nächte war Schlaf undenkbar.
Plötzlich vernahm er Schritte, Schritte, die so leise waren, daß er, zuerst dachte, sie stammten von Kleopatra.
Nein, sie waren noch leiser, so leise, daß sie fast wie das lautlose Tappen des Gummiez-Doppelgängers wirkten, der vielleicht doch endlich aus seiner Spiegelwelt entkommen war und durch die dunklen Zimmer näher und näher schlich. Der Fellstreifen längs seines Rückgrats sträubte sich knisternd.
Da tauchte Sissy im Kinderzimmer auf. Sie sah zierlich aus wie eine ägyptische Prinzessin in ihrem langen, dünnen gelben Nachthemd, und sie wirkte ebenso selbstsicher, aber ihre Katzennatur war in dieser Nacht besonders stark: ihre Augen blickten starr und ausdruckslos, ihre kleinen, weißen Eckzähne waren leicht entblößt - hätte MiezMiez-Kooomm sie so gesehen, sie wäre sofort zum Telefon gestürzt und hätte jene Nummer gewählt, die sie immer versteckt hielt, die Telefonnummer des besonderen Doktors. Gummiez begriff, daß er Zeuge einer ungeheuerlichen Verletzung der Naturgesetze wurde, denn wie sonst konnte dieses Wesen auch nur einen Augenblick länger existieren, ohne einen Pelz zu bekommen und schmale Spaltpupillen statt runden.
Er zog sich in die dunkelste Ecke des Zimmers zurück und unterdrückte ein Fauchen.
Sissy trat an die Wiege und beugte sich im Mondlicht über den Säugling, achtete aber darauf, daß ihr Schatten nicht auf ihn fiel. Eine Weile starrte sie ihn nur kalt an. Dann fing sie an, über seine Wange zu kratzen - mit einer langen Hutnadel, die sie mitgebracht hatte. Sie kam dem Auge sehr nahe mit der Spitze, gefährlich nahe. Baby wachte auf und sah sie und weinte nicht, rührte sich nicht. Sissy kratzte ein wenig fester. Das Mondlicht glitzerte auf dem Schmuckknopf am Ende der Nadel.
Gummiez wußte, daß er es hier mit etwas Entsetzlichem zu tun hatte, gegen das kein Herumtoben, Fauchen oder Schreien half. Nur mit Magie konnte man eine so offensichtlich übernatürliche Manifestation bekämpfen. Auch war dies nicht der Augenblick, an die Folgen zu denken, selbst wenn sie seinem wachen Geist mit bitterer Deutlichkeit vor Augen standen.
Er sprang auf den anderen Rand des Bettchens hinauf, lautlos, richtete aus dem Mondlicht heraus seine gelben Augen auf Sissy und fing ihren Blick ein. Dann bewegte er sich geradewegs auf ihr böses Gesicht zu, ganz langsam, ohne Eile; indem er sein außerordentliches Wissen um die Eigenschaften des Raums anwendete, glitt er durch ihre Hand, ihren Arm, als sie mit der Hutnadel nach ihm stach. Wie seine Nasenspitze endlich kaum einen Zentimeter vor der ihren haltmachte, konnte sie seinem Blick nicht mehr ausweichen. Und jetzt schleuderte er ohne Zögern seinen Geist in sie hinein wie ein Bündel flammender Pfeile und machte den Spiegelzauber.
Sissys monderhelltes Gesicht, eine erschrockene Katzenfratze, war in gewissem Sinn das letzte, was Gummiez, das wahre Gummiez-Kätzchen, von dieser Welt sah. Denn im nächsten Augenblick fühlte er, wie sich die dumpfe, dunkle Wolke von Sissys Geist um ihn legte.
Zur gleichen Zeit hörte er das kleine Mädchen rufen, sehr laut, sehr schrill und sehr deutlich: » Mama!«
Dieser Schrei hätte Miez-Miez-Kooomm selbst aus dem Grab geholt,
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