Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Einleitung
Die Leser meiner historiografischen Veröffentlichungen dürften meine Arbeitsweise mit einer Haltung streng wissenschaftlicher und persönlich distanzierter Forschung verbinden, die sich stets innerhalb wohl definierter historischer Kategorien bewegt. Nur wenige wissen jedoch von der Existenz einer Dimension des Schweigens in mir, von der Entscheidung, die ich getroffen hatte, die biografische von der historischen Vergangenheit zu trennen. Und nur ganz wenige wussten, dass ich über ein Jahrzehnt hinweg, zwischen 1991 und 2001, Tonbandaufnahmen gemacht habe, in denen ich die Bilder, die in meinem Gedächtnis aufstiegen, beschrieb und die Erinnerung erforschte an das, was ich in meiner privaten Mythologie »Die Metropole des Todes« oder, in täuschender Einfachheit, »Kindheitslandschaften aus Auschwitz« genannt habe. Es handelt sich bei den Aufnahmen weder um ein historisches Zeugnis noch um autobiografische Erinnerungen, sondern um die Betrachtungen eines Menschen in seinen späten Fünfzigern und Sechzigern, der jene Fragmente der Erinnerung und der Vorstellungskraft in seinen Gedanken hin und her wendet, die aus der Welt des staunenden Kindes von zehn bis elf Jahren, das ich damals war, geblieben sind.
Lange Jahre habe ich von der Veröffentlichung der Tonbandaufnahmen abgesehen. Erst nach dem Abschluss der großen wissenschaftlichen Quelleneditionen, mit denen ich befasst war, 1 habe ich mich entschlossen, diese »Landschaften« in Buchform der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Ich bin mir bewusst, dass dieses Buch von einer immanenten Spannung durchzogen ist, einer Dichotomie, die zwischen meinem wissenschaftlich-historischen Umgang mit der Vergangenheit und reflektierender Erinnerung derselben aufscheint.
Der historische Schauplatz war ein Ort, der »Familienlager« hieß, ein Lager für die Juden aus Theresienstadt in Auschwitz-Birkenau, hauptsächlich der Kinder- und Jugendblock dort, der fast ein Jahr lang bis zur endgültigen Liquidierung des Lagers und beinahe all seiner Häftlinge im Sommer 1944 bestand. 2
Den zehn Kapiteln verschriftlichter Tonbandaufnahmen folgen drei Kapitel mit Auszügen aus meinen Tagebüchern, die alle aus den vergangenen Jahren stammen. In ihrer Art und in den Themen sind sie den Tonbandaufzeichnungen verwandt.
Wie die Tagebuchaufzeichnungen sind auch die Tonbandaufnahmen Monologe. Der Unterschied liegt darin, dass Letztere in Gegenwart einer Dialogpartnerin gesprochen wurden, die den Anstoß zu den Aufnahmen gab und sie so erst möglich machte.
Bei der Verschriftlichung des gesprochenen Wortes versuchte ich, seinen authentischen Charakter zu bewahren, die Unmittelbarkeit und den Rhythmus in all seinen Unregelmäßigkeiten, Abstufungen und Tonlagen beizubehalten.
Die in den Text integrierten Abbildungen sind ein ureigener Bestandteil des Narrativs. Zum Teil sind es meine eigenen Fotografien der Orte, die ich beim Bereisen meiner Erinnerungslandschaften durchstreife, aber auch Fotos, Zeichnungen und Faksimiles aus anderen Quellen.
Die verborgene Bedeutung der metaphorischen Sprache dieses Buches mit ihren wiederkehrenden Motiven, wie etwa »das unabänderliche Gesetz des Todes«, »der Große Tod«, »die Metropole des Todes«, reicht über die Erfahrung der Welt von Auschwitz hinaus. Es handelt sich um Metaphern für das, was sich damals in eine Weltordnung auszubreiten schien, die den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern würde, und als solche sind sie in meiner reflektierenden Erinnerung verblieben. Ich bin mir auch bewusst, dass diese Texte, obgleich im konkreten historischen Geschehen verankert, über die Sphäre der Geschichte hinausweisen.
1 Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus, Bd. I, Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933–1939 , Tübingen 1997; Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933–1945 , hrsg. zus. mit Eberhard Jäckel, Düsseldorf 2004; The Jews in the Secret Nazi Reports on Popular Opinion in Germany 1933–1945, hrsg. zus. mit Eberhard Jäckel, New Haven, Conn., 2010.
2 Zur Geschichte des Lagers siehe meinen auf dokumentarischem Material basierenden Aufsatz im Anhang zu diesem Buch.
L ANDSCHAFTEN
D ER M ETROPOLE DES T ODES
1
Prolog – vielleicht auch
ein Epilog
Der Beginn dieser Reise, von der ich noch nicht weiß, wohin sie mich führen wird, war sehr prosaisch und nichts Ungewöhnliches: ein internationaler Kongress in Polen im Jahr 1978, an dem ich zusammen mit
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