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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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nicht mehr in einer unbewohnten Wildnis befand. Wo es ein vernunftbegabtes Wesen gab, konnten sehr gut auch andere leben. Jeden Augenblick konnte er den Bewohnern dieses Landes begegnen, und dann wollte er nicht gerade halbnackt daherlaufen.
    Nach dem Schweigen der großen Wüste schienen die vielen Geräusche des Waldes ihn beinahe zu bedrängen. Über seinem Kopf riefen die Vögel in den Bäumen, vor seinen Füßen flüchteten kleine Tiere, und wenn Tamino nach oben blickte, sah er Wesen durch die Zweige huschen. Bis jetzt stammte jedoch keiner dieser Laute von Menschen. Es sei denn, manche dieser Tiere, die er undeutlich sah und mit ihm in dieser Wildnis weilten, waren in Wirklichkeit Halblinge und in gewisser Weise auch Menschen. Das zu glauben, fiel Tamino immer noch sehr schwer.
    Er wanderte den ganzen Morgen und auch noch einen großen Teil des Nachmittags. Auf einmal verstummten die Tier-laute hoch über ihm und unter seinen Füßen, und ein kurzer, heftiger Regenschauer ging nieder. Selbst im Schutz der Bäu-me wurde er bis auf die Haut naß. Tamino staunte über den heftigen Wind, der durch die Zweige fuhr und die Blätter peitschte. Er kauerte sich fröstelnd unter einem Baum zusammen und ließ den Wind über sich dahinbrausen, während der Regen seine Haut wie Messerstiche traf.
    So plötzlich wie er begonnen hatte, hörte der Regen auf. Die Sonne schien wieder, und ihre Strahlen drangen durch die Zweige. Silberne Tropfen lösten sich von den Blättern und fielen wie schimmernde Perlen auf seinen Kopf. Hoch über ihm schrie ein Vogel, und Tamino sah einen Augenblick lang leuchtendgelbe und rote Federn. Die nasse Tunika trocknete in der Hitze beinahe augenblicklich.
    Er überlegte sich gerade, daß es an der Zeit wäre, einen Rast-platz für die Nacht zu suchen und die Reste des gebratenen Hörnchens zu essen, als sich eine Lichtung vor ihm auftat.
    Hier mußten einmal Menschen gelebt haben, denn mächtige Steine türmten sich unter den Bäumen; man sah hohe Säulen und halbzerfallene Mauern. Tamino blickte auf den Boden und stellte fest, daß er über ein Mosaik aus kleinen leuchtenden Steinen ging und entdeckte in ihm merkwürdige Wesen: Tiere und Vögel, Menschen und Halbmenschen, eine Frau mit dem gehörnten Mond auf der Stirn, eine große geringelte Schlange in Menschengestalt. Doch selbst die Farben der Steine waren verblaßt. Er fragte sich, wer hier gelebt hatte, und wie lange das her sein mochte.
    Noch während ihn dieser Gedanke beschäftigte, bemerkte Tamino auf der anderen Seite der Lichtung die Gestalt eines Mannes schattenhaft in einem leuchtendbunten Mantel – ein Mann? Es war eine große, aufrechte Gestalt mit hoch erhobenem Haupt. Einen Augenblick lang sah er ein Gesicht, eine gerade Nase und ein scharfgeschnittenes, arrogantes Kinn, dann nichts mehr. Doch in der Schnelligkeit, mit der jene Gestalt sich bewegte, lag etwas Unmenschliches. Im nächsten Augenblick verschwand sie in einer großen Ruine am anderen Ende der Lichtung. Als Tamino darüber nachdach-te, kam ihm die Gestalt nicht menschlich vor. Noch ein Halbling? Er sah das Profil wieder vor sich – ein edles, melancholi-sches Gesicht – und unwillkürlich rief er dem verschwunde-nen Mann nach – wenn es sich tatsächlich um einen Mann handelte:
    »He da! Hallo! Komm heraus und sprich mit mir! Ich bin ein Reisender aus dem Reich im Westen.« Er dachte wieder daran, wie sehr die Halbling-Frau sich vor ihm gefürchtet hatte und fügte hinzu: »Ich habe nichts Böses im Sinn. Ich will nur mit dir sprechen!«
    Schweigen. Tamino spürte, wie ihm das Herz in der Brust klopfte. War es nur die Erregung bei dem Gedanken, nach einem ganzen Monat der Einsamkeit wieder Menschen zu begegnen? Oder war es Furcht? Auf der Lichtung blieb alles still nur das Gras raschelte unter seinen Füßen, und die Insekten summten. In der Ferne zwitscherte ein Vogel, und man hörte ein leises fröhliches Pfeifen. Tamino konnte nicht entscheiden, ob es sich dabei um einen Vogel oder um einen menschlichen Laut handelte. Es klang nicht ganz nach einem Vogel, denn es schien irgendwie einen Zweck zu ver-folgen.
    Wohin war der Fremde – wenn es sich tatsächlich um einen Mann gehandelt hatte – verschwunden? Die Lichtung war leer. Selbst die Vögel schienen zu schweigen.
    Dann hörte er ein heiseres Brüllen, und ein glühendheißer Windstoß traf seinen Kopf. Tamino blickte auf und sah einen Schatten drohend über sich schweben.
    In diesem Augenblick des

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