Tochter der Nacht
sich umsah, entdeckte er keine Spur von dem toten Tier.
Das war so widersinnig wie alles, was an diesem Morgen geschehen war. Doch Tamino gab nicht auf. Er war nicht hungrig, denn er hatte genug Datteln gegessen. Aber er mußte sich schon zu lange von getrockneten Früchten ernähren und sehnte sich nach dem Geschmack von frischem Fleisch. Tamino suchte den Boden sorgfältig nach der Gazelle ab. Hatte er sie vielleicht doch nicht getroffen? Nein, er hatte gesehen, wie der Pfeil sie durchbohrte. Und auf diese kurze Entfernung konnte er sie kaum verfehlt haben. Außerdem war das Tier vor seinen Augen zusammengesunken.
Hartnäckig stieß er mit dem Fuß immer wieder ins Gestrüpp.
Es war nicht sehr hoch, nicht hoch genug, um eine ausge-wachsene Gazelle zu verbergen.
Sein Fuß traf auf ein Hindernis. Verblüfft entdeckte Tamino einen seiner Pfeile und bückte sich, ihn aufzuheben. Der Pfeil steckte fest, und als Tamino daran zog, stellte er fest, daß er tatsächlich etwas geschossen hatte.
Aber es war keine Gazelle, sondern eines der kleinen, merkwürdig aussehenden Hörnchen, wie er es schon einmal erlegt hatte.
Nachdenklich hob Tamino das Tier hoch. Er hatte eine Antilope gesehen und wollte sie nicht erlegen, weil er glaubte, ein so großes Tier nicht aufessen zu können. Die Antilope hatte sich passenderweise in eine Gazelle verwandelt, auf die er schoß. Und als er das Tier fand, hatte es sich noch einmal verwandelt – und zwar in ein Hörnchen.
Vermutlich sollte er es auf der Stelle braten und essen, ehe es sich noch weiter verwandelte und zu einem Sperling oder einer Grille wurde.
Tamino kehrte zu seinem Bündel zurück und ließ es nicht aus den Augen, aus Furcht, es könne sich ebenfalls verwandeln. Wenn aus seinem Messer zum Beispiel ein Angelhaken oder ein Spinnrad werden sollte, hätte er Schwierigkeiten, sich eine Mahlzeit zu bereiten. Aber glücklicherweise behielt alles seine Form. Er setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und enthäutete das Hörnchen, nahm es aus und schnitt sich einen Stock, um es daran aufzuspießen. Dann machte er ein Feuer und hängte das Fleisch darüber.
Es begann bald zu bruzzeln und zu zischen. Ein appetitlicher Geruch verbreitete sich. Inzwischen säuberte Tamino den Wasserschlauch und füllte ihn neu, warf seine Kleider ab und sprang in den Teich, um seinen gebräunten Körper vom Staub zu befreien, wusch dann seine Tunika, die Tücher, die er sich um die Beine gewickelt hatte, und legte sie zum Trocknen über einen Dornbusch. Er trank noch einmal von dem köstlichen Wasser. Nach der langen Zeit in der Wüste hatte er schon beinahe geglaubt, in Zukunft immer durstig sein zu müssen.
Er ließ sich am Ufer nieder und aß das gebratene Hörnchen.
Das Fleisch schmeckte ungewohnt, als habe das Tier sich von bitteren Beeren ernährt. Aber immerhin war es Fleisch, und es machte satt. Tamino genoß die erste wirklich zufrieden-stellende Mahlzeit nach vielen Tagen. Inzwischen war seine Tunika getrocknet, und er nahm sie von dem Busch. Doch die Sonne schien warm, und er zog sie noch nicht an.
∗ ∗ ∗
Plötzlich bewegte sich das Wasser im Teich; er hörte ein Klatschen und sah ein kleines behaartes Gesicht mit einem Schnurrbart, das ihn neugierig musterte. Zunächst hielt Tamino es für ein kleines Tier… einen Otter vielleicht. Aber er erkannte schnell menschliche Intelligenz in den dunklen Augen: ein Halbling! Selbst im fernen Reich im Westen hatte er von Halblingen gehört, jedoch noch nie einen gesehen. Man erzählte, daß vor vielen Jahren solche Geschöpfe als Kuriosi-täten an den Hof des Kaisers gebracht worden waren. Er kannte die Geschichte eines Affen, der mit der Kaiserin Schach spielte und gewann.
Der Otter-Halbling kroch langsam ans Ufer; er hatte die Gestalt einer kleinen, behaarten Frau. Das runde Gesicht war so bärtig, daß Tamino erst beim Anblick der beiden Reihen kleiner Brüste am Bauch erkannte, daß es sich um einen weiblichen Halbling handelte. Fell bedeckte ihren Rücken, Brüste und Bauch waren weniger behaart). Arme und Hände waren anormal, beinahe grotesk kurz und endeten in Stummelfingern mit Krallen Auch die Beine waren kurz und hatten weniger Füße als Pfoten. Sie waren nicht einmal halb so lang wie der Rumpf.
Tamino betrachtete die Otter-Frau mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Ein echter Otter hätte ihm gefallen.
Und nach so vielen Tagen einem Menschen zu begegnen, wäre ihm mehr als willkommen gewesen. Doch
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