Tochter der Nacht
Entsetzens nahm er nur etwas Riesiges wahr, Schuppen und Flügel, eine Andeutung von Federn und einen schrecklichen Schnabel, der nach seinem Kopf stieß. Er wich zurück, griff nach seinem Bogen und spannte ihn schnell, doch der Drachen griff im Sturzflug an.
Tamino duckte sich, warf sich auf den Rücken und lag ausgestreckt auf dem Mosaikfußboden im Gras der Lichtung. Unwillkürlich legten seine Finger einen Pfeil auf die Sehne, und er schoß.
Er mußte sein Ziel getroffen haben, denn Tamino hörte, wie das Untier wütend brüllte, als es sich von neuem auf ihn stürzte. Der Drachen war jetzt zu nahe, der Bogen nützte Tamino nichts mehr. Irgendwie gelang es ihm, das Messer zu ziehen, nur zu gut wissend, daß es als Waffe nichts taugte und er sich unbewaffnet der größten Bedrohung seines Lebens stellen mußte.
∗ ∗ ∗
Blindlings stieß er nach oben. Die riesigen Drachenflügel nahmen ihm jede Sicht. Der stinkende Atem des Ungeheuers versengte ihm den Nacken, als er sich umdrehte und ziellos davonstürzte. Kämpfen war nutzlos. Kein Mensch konnte allein gegen ein solches Ungeheuer bestehen. Tamino ver-fluchte das Geschick, das ihn unbewaffnet hierher geführt hatte. Voll Verzweiflung schoß es ihm durch den Kopf, daß seine Reise hier enden würde, und Tamino dachte voll Bedauern an all das Unbekannte, das er nie sehen oder kennenlernen sollte – selbst den Prüfungen würde er sich nicht mehr stellen können.
Mit dem Mut der Verzweiflung drehte er sich blitzschnell herum und stieß noch einmal mit dem Messer zu. Er würde wenigstens kämpfend sterben. Der Drachen sollte ihn nicht rücklings zerhacken und zerreißen. Tamino wünschte, jemand würde seinen Vater davon benachrichti-gen, wie er gestorben war und fragte sich verstört, ob es nach dem Tod noch etwas gab oder ob dies das Ende sei. Das Ge-brüll des Drachens dröhnte in seinen Ohren. Und noch einmal fand das Messer sein Ziel, bohrte sich tief hinein, und dunkles übelriechendes Blut strömte über ihn. Doch der Drachen kämpfte weiter; Tamino hatte ihn nicht einmal ernstlich verwundet.
In diesem dunklen Alptraum von Blut, Gestank und Kampf hörte er plötzlich helle Stimmen. Tamino sah, wie sich scharfe Speerspitzen in den Drachen bohrten, sah ungläubig, wie das Ungeheuer zu Boden stürzte und verendete. Über ihm tauchten die Gesichter von Frauen auf: drei Frauen in leder-nen Rüstungen. Auf dem Brustpanzer funkelten spitze mondähnliche Sicheln. Im letzten Aufflackern seines Be-wußtseins dachte er: Sie sehen aus wie die Frauen in den Bodenmosaiken mit dem Mond auf der Stirn.
War es ein Traum? Waren es die Schutzgeister dieses Ortes?
Waren es nur die letzten ersterbenden Phantasiebilder seines Gehirns? Hatte der Drachen ihn doch getötet?
Erschöpft fiel Tamino in eine unendlich tiefe sternenlose Dunkelheit.
Viertes Kapitel
Disa versetzte dem toten Drachen einen Fußtritt, dann beugte sie sich nieder, um ihn wegzuziehen und gab ihren Schwestern ein Zeichen, ihr dabei zu helfen. Zeshi folgte der Aufforderung, aber Kamala blieb reglos stehen und blickte unverwandt auf das Gesicht des bewußtlosen Jünglings.
»Ist er wirklich ein Prinz? Mit diesem schäbigen Mantel…«
»Er ist der zweite Sohn des Kaisers im Westen, und er heißt Tamino«, erklärte Disa. »Aber wenn wir den toten Drachen nicht wegziehen, können wir ihn nicht befreien und ins Leben zurückrufen.«
Kamala wandte nur zögernd den Blick von Taminos lebloser Gestalt und zog mit ihren Schwestern den toten Drachen beiseite. Dabei murrte sie: »Das ist keine Arbeit für uns. Außerdem wußte ich gar nicht, daß es hier Drachen gibt.«
»Wir sind im Land der Wandlungen«, erwiderte Zeshi. »Du solltest eigentlich wissen, daß man im Land der Wandlungen so ungefähr alles finden kann. Und was einem hier begegnet, bleibt nie, was es vorher war.«
»Vermutlich.« Kamala richtete sich auf und blickte wieder auf Tamino. »Er sieht wirklich gut aus.«
Zeshi nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Keiner der Männer im Tempel der Nacht kann sich mit ihm vergleichen. Seht euch seine Schultern an, seine Schenkel, seine Hände. Sind seine Augen wohl blau oder schwarz? Er hat lange Wimpern wie ein Mädchen. Ich bin sicher, er könn-te mir großen Genuß verschaffen. Ob er in seiner fernen Heimat wohl eine Geliebte hat? Könnte ich ihn dazu bringen, daß er sie vergißt? Das würde ich gerne wissen…«
∗ ∗ ∗
Disa lachte, aber es klang nicht
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