Tochter des Glueck
Seite, und ich gehe ins Haus. Der Vorraum ist groß. Der lange Gang ist mit polierten Mahagonidielen ausgelegt. Rechts befindet sich ein Wohnzimmer mit Möbeln aus der Ming-Dynastie. Links liegt das Esszimmer, ähnlich eingerichtet. Da ich in Chinatown aufgewachsen bin, kann ich das Echte vom Nachgemachten unterscheiden, und was ich hier sehe, ist echt und von guter Qualität. Doch was da an der Wand hängt, erschüttert mich. Jedes einzelne der Plakate zeigt meine Mutter und meine Tante. Sie sind jung und strahlend, hübsch gekleidet und mit allen möglichen Aktivitäten beschäftigt – wollen in einen Pool springen, steigen aus einem Flugzeug und winken oder trinken Champagner bei einem Tanztee. Meine Mutter und meine Tante schwelgten oft in Erinnerungen an ihre Zeit als »Kalendermädchen«. Und nun sehe ich sie hier, gerahmt und ausgestellt wie in einem privaten Museum. Ich bin hin- und hergerissen, denn einerseits bin ich noch wütend auf sie, andererseits verleiht es mir Mut, ihre Gesichter zu sehen.
»Bitte«, sagt die junge Frau. Ich nehme Platz, und sie tappt leise aus dem Raum. Kurz darauf kommt eine andere junge Frau herein, in identischer Hose und Tunika. Ohne ein Wort schenkt sie mir eine Tasse Tee ein und zieht sich wieder zurück. Mein Vater hat Dienstmädchen! So habe ich mir sein Leben allerdings nicht vorgestellt.
»Was gibt es?«, fragt ein Mann.
Er ist es. Plötzlich zittere ich so sehr, dass ich Angst habe aufzustehen. Ich habe einen so weiten Weg zurückgelegt und so viele Verbindungen durchtrennt …
»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.« Meine Stimme bebt. »Sind Sie beschäftigt?«
»Um ehrlich zu sein, ja«, antwortet er kurz angebunden. »Ich gehe aufs Land. Das musst du doch wissen, Genossin. Ich würde jetzt gerne in Ruhe packen. Ich habe noch viel zu erledigen …«
»Sind Sie Li Zhi-ge?«
»Natürlich bin ich das!«
»Vor langer Zeit hatten Sie einen anderen Namen. Man nannte Sie Z. G. Li …«
»Damals hatten viele Leute andere Namen. Zu der Zeit folgte ich dem Wind und nahm westliche Gepflogenheiten an. Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich habe mich mit der Zeit verändert und verändere mich immer noch.«
»Sind Sie derselbe Maler, der früher Kalendermädchen gemalt hat?«
Er sieht mich ungeduldig an und deutet auf die Wände. »Das siehst du doch. Auch diese Zeit bereue ich …«
»Haben Sie jemals Pearl und May Chin gemalt?«
Er antwortet nicht – wieder hängt die Antwort an den Wänden –, aber sein Gesicht wird grau und seine Haltung schlaff. »Wenn du hier bist, um mich noch mehr zu bestrafen, kannst du dir die Mühe sparen, Genossin«, sagt er steif.
Wovon redet er da?
»Pearl Chin ist meine Tante«, fahre ich fort. »May Chin ist meine Mutter. Ich bin neunzehn Jahre alt.« Ich beobachte ihn genau, während ich spreche. Sein abwehrendes Grau wird zu einem geisterhaften Weiß. »Ich bin deine Tochter.«
Er lässt sich in den Sessel mir gegenüber fallen und starrt mich an. Kurz blickt er auf die Poster an der Wand hinter mir, dann sieht er wieder mich an.
»Das könnte jeder behaupten.«
»Aber aus welchem Grund?« erwidere ich schroff. »Sie haben mir den Namen Joy gegeben.« Ich sage »sie« und hoffe, er fragt nicht nach dem Grund. Ich bin nicht darauf vorbereitet, ihm alles gleich jetzt zu erzählen.
»Ich habe gehört, Pearl und May seien gestorben …«
»Nein.«
Ich suche in meiner Handtasche nach meinem Geldbeutel und zeige ihm ein Foto, das Anfang dieses Sommers aufgenommen wurde, als wir zum ersten Mal in Disneyland waren. Meine Mutter und meine Tante fanden, wir müssten entsprechend gekleidet sein. Tante May trug ein Baumwollkleid mit einem Gürtel um die Taille, einem weiten Rock und einem Petticoat darunter. Mom trug einen Faltenrock und eine taillierte Hemdbluse. Beide waren vorher beim Friseur gewesen und hatten sich Seidenschals um den Kopf gebunden, um ihre Frisuren zu schützen. Zur Abrundung trugen sie Schuhe mit hohen Absätzen. Natürlich waren wir uns heftig darüber in die Haare geraten, was ich anziehen sollte. Wir hatten uns schließlich auf einen engen, knielangen Rock, eine ärmellose weiße Bluse und Ballerinas geeinigt. Mein Dad hat das Bild von uns drei vor der Peter-Pan-Bahn gemacht.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich blinzle sie weg. Z. G. betrachtet das Foto mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten kann. Verlust? Liebe? Reue? Vielleicht begreift er einfach allmählich, dass ich ihm die Wahrheit gesagt
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