Tochter des Glueck
rollen und Arbeiter und Soldaten vereinen. So ähnlich wie das, was du für China Reconstructs gemacht hast. Meine Mutter und meine Tante« – ich spezifiziere weiterhin nicht, wer von beiden wer ist – »haben die Ausgaben mit deinen Bildern immer aufgehoben.«
»May hat sie gesehen?«
Wieder May. Er scheint mehr über sie wissen zu wollen als über mich.
»Ja, sie hat sie an die Wand über ihrem Bett gehängt.«
Sein Mund verzieht sich zu einem leichten Lächeln. Das schmeichelt ihm.
»Was noch?«, fragt er.
Über May? Über die Kunst? Ich bleibe bei der Kunst.
»Es gibt Karikaturen. Gut für die Politik …«
Er nickt, aber ich sehe ihm an, wie sehr er sich nach wie vor darüber freut, dass jemand weit weg in einem anderen Land noch Sehnsucht nach ihm empfindet.
»Und die vierte?«, fragt er.
Ich laufe rot an. Es kommt mir vor, als wäre alles, was ich je gelernt oder gesehen habe, urplötzlich wie weggeblasen. Ich gehe im Geiste alle Wände in unserem Haus in Chinatown sowie in den Cafés und in den Andenkenläden durch, in denen ich in meinem Leben je gewesen bin, in den Werkstätten und Läden …
»Landschaften! Blumen und Schmetterlinge! Hübsche Damen, die in einen Teich blicken oder in einem Pavillon sitzen. Kalligrafie!« Eines davon muss richtig sein.
»Traditionelle chinesische Malerei«, sagt er zustimmend. »Das ist das genaue Gegenteil der Neujahrskalender. Die traditionelle Malerei ist weit entfernt vom Leben der Soldaten, Arbeiter und Bauern. Manche finden sie zu elitär, dennoch wird sie als Kunstform akzeptiert. Welches ist dein Spezialgebiet?«
»In Chinatown haben immer alle gesagt, meine Kalligrafie sei makellos …«
»Zeig mal.«
Jetzt soll ich für diesen Mann – meinen Vater – Kalligrafien malen? Warum sind meine künstlerischen Fertigkeiten wichtig? Soll das eine Prüfung sein, um zu sehen, ob ich wirklich seine Tochter bin? Was ist, wenn ich nicht bestehe?
Z. G. steht auf und winkt mir, ihm zum Schreibtisch zu folgen. Er holt die vier Schätze des Studierzimmers hervor: Papier, einen Reibstein, einen Tuschestab und einen Pinsel. Er ruft eines seiner Dienstmädchen, ihm Wasser zu bringen. Dann sieht er mir zu, wie ich die Tusche auf dem Stein reibe und Wasser dazumische, bis ich die gewünschte Schwärze erreicht habe, und dann, wie ich den Pinsel halte und über das Papier führe, während ich einen Zweizeiler schreibe. Ich möchte keinen gewöhnlichen Spruch schreiben wie zum Beispiel: »Möge dir das kommende Jahr Frieden und Sicherheit bringen.« Ein guter Zweizeiler verlangt Symmetrie – Satz um Satz, Nomen um Nomen, Adjektiv um Adjektiv. Ich erinnere mich an einen, den ich vor ein paar Jahren für unsere Nachbarn geschrieben habe. Im ersten Teil schreibe ich die Zeichen Vorüber der Winter, klare Berge, glitzerndes Wasser . Sobald ich damit fertig bin, fange ich mit dem zweiten Teil an, der auf der anderen Seite der Tür hängen würde: Bald kommt der Frühling, duftende Blumen, singender Vogel.
»Dein ch’i yun – die Dynamik – ist gut«, sagt Z. G., »aber wie der große Führer selbst bemerkt hat, kann diese Art der Kunst nicht mehr sich selbst genügen. Benutzt du also die Tradition, um der Gegenwart zu dienen? Keine Frage. Du bemühst dich gerade sehr, das sehe ich. Wenn ich mir deine Arbeit anschaue, weiß ich nicht, ob ich hier Überreste des Feudalismus oder duftende Blumen vor mir sehe, aber du könntest von mir lernen.«
Ich verstehe nicht die Hälfte dessen, was er sagt. Wie erkennt er Überreste des Feudalismus oder duftende Blumen in meinem Zweizeiler? Aber das ist jetzt eigentlich nicht wichtig, denn ich habe seine Prüfung bestanden.
»Es ist gut, dass du heute gekommen bist, denn ich gehe aufs Land und soll den Bauern Malunterricht geben«, verkündet er. »Du begleitest mich als meine Assistentin. Ich habe genügend Reisbezugsscheine für meine … Reise, um sie mit dir zu teilen. Die Menschen auf dem Land werden nicht merken, wie unwissend du bist.«
Aufs Land? Jede Entscheidung, die ich treffe, bringt mich weiter weg von allen Menschen und Dingen, die ich kenne. Ich habe Angst, aber ich finde es auch spannend … und ich fühle mich geehrt.
Eine Stunde später reicht Z. G. seinem Fahrer zwei Gepäckstücke der Marke Langer Marsch. Der Chauffeur verstaut die Reisetaschen zusammen mit meinem Koffer und mehreren anderen Kästen und Schultertaschen, die mit Künstlerutensilien gefüllt sind, in dem Kofferraum einer Luxuslimousine »Rote
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