Tochter des Glueck
Fahne«. Dann fährt er uns zum Hafen, wo wir eine Fähre nach Hangchow besteigen. Sobald wir das Gepäck in die Kabinen gebracht haben, gehen wir ins Restaurant. Z. G. bestellt für uns; das Essen ist ziemlich gut. Während der Mahlzeit versucht er mir ein bisschen von dem zu erklären, was wir tun werden, und ich bin eifrig bemüht, mich als kenntnisreich zu erweisen.
»Wir befinden uns am Ende der sogenannten Hundert-Blumen-Bewegung …«
»Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern«, zitiere ich. »Ich weiß alles darüber. Mao hat Künstler, Schriftsteller, naja, eigentlich jeden dazu ermutigt, die Regierung zu kritisieren, damit die Revolution lebendig bleibt und weiterwächst.«
Wieder wirft er mir einen Blick zu, den ich nicht deuten kann.
»Im Zuge dieser Bewegung wurden Maler wie ich gebeten, unsere Ateliers zu verlassen, uns unter die Volksmassen zu mischen und das echte Leben kennenzulernen«, fährt er fort. »Wir fahren ins Gründrachendorf in der Provinz Anhwei. Es ist eines der neuen Kollektive. Das sind …«
»Auch das weiß ich!«, rufe ich. »Darüber habe ich in China Reconstructs gelesen. Erst gab es die Landreform, als die Grundherren ihre Besitzungen dem Volk geschenkt haben ….«
»Konfisziert und umverteilt trifft es eher.«
»Das stand aber nicht so da«, entgegne ich. »Du solltest stolz auf diese Leistung sein. Nach mehr als zweitausend Jahren wurden die Eigentumsverhältnisse des Feudalismus zerstört …«
»Und die Klasse der Grundherren eliminiert …«
Ich ignoriere seinen unwirschen Kommentar. »Dann sollten die Volksmassen zusammenhelfen, und fünf bis fünfzehn Haushalte sollten die Arbeit gemeinsam verrichten. Vor zwei Jahren wurden die Kollektive gegründet. Jetzt teilen sich ein- bis dreihundert Haushalte die Arbeit und den Gewinn.«
»Das ist eine ziemlich vereinfachende Betrachtungsweise.« Wieder fällt mir sein trockener Ton auf. »Aber im Großen und Ganzen hast du recht. Jedenfalls fahre ich ins Gründrachendorf. Danach müssen wir sehen, wie das Klima ist, wenn die Zeit kommt.«
Er wendet sich ab und schaut aus dem Fenster. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich irgendetwas über die Provinz Anhwei weiß. Spielt dort nicht der Film Die gute Erde ? Ich bin in Wangs nachgebautem Bauernhaus quasi aufgewachsen. Es gehörte zu China City, der Touristenattraktion, in der meine Eltern gearbeitet haben. Ein Bauernhaus wird mir vertraut sein: Hühner, die vor der Tür Körner picken, hölzerne Gerätschaften, ein einfacher Tisch, ein paar Stühle.
In Hangchow übernachten wir in einem Gästehaus – es ist recht sauber, hat jedoch eine Hocktoilette auf dem Gang, die von allen gemeinsam benutzt wird. Z. G. führt mich in ein Restaurant am See. Wir plaudern über das Essen: Fischsuppe mit Reisnudeln, Blattgemüse und Reis. Er nennt mich Joy, und ich sage Z. G. zu ihm. Zum Nachtisch bestellen wir frittierte Küchlein aus frischem Mais, mit Puderzucker bestreut. Nach dem Essen gehen wir am See spazieren. Mein Magen und mein Herz sind voll, während ich neben meinem leiblichen Vater herlaufe. Hier bin ich, in China, an einem See, der rosa schimmert, während die Sonne untergeht. Trauerweiden tauchen ihrer fedrigen Zweige ins Wasser. Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll oder was mich glücklicher macht – unsere beiden immer länger werdenden Schatten vor uns oder sein Gesicht in dem sanften Licht.
J OY
Ein Bambuszweig
A m nächsten Morgen, es ist mein erster Sonntag in China, ist mir nicht ganz klar, wie der Tag ablaufen wird. Mein ganzes Leben lang bin ich entweder in der Methodistenmission oder in der Kirche zur Sonntagsschule und zum Gottesdienst gegangen. Selbst in Chicago ging ich zum Gottesdienst. Aber heute? Z. G. sieht völlig verändert aus, als er aus seinem Zimmer kommt. Er trägt nicht mehr seinen elegant geschnittenen Anzug, sondern weite Hosen, ein kurzärmliges weißes Hemd und Sandalen. Ich trage eine pinkfarbene Caprihose mit einer ärmellosen weißen Bluse, die Tante May letztes Jahr bei Bullock’s im Ausverkauf für mich erstanden hat. Sie fand, die Zusammenstellung sehe »flott, frisch und jung« aus, aber Z. G. scheint das egal zu sein.
Nach einem Frühstück, bestehend aus Reisbrei, mit würzigem Blattgemüse gefüllten Reisküchlein, frischen Loquats und starkem Tee, fahren wir mit einem anderen Schiff auf einem kleinen Fluss nach Tun-hsi, wo wir eine Fahrradrikscha zum Busbahnhof nehmen. Tun-hsi ist im
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