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Tochter des Glueck

Tochter des Glueck

Titel: Tochter des Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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einem Sonntagmorgen Ende März wache ich kurz nach Tagesanbruch auf. Das Erste, was ich sehe, ist unser neues Plakat des Vorsitzenden Mao an der Wand. Jedes Haus in der Kommune hat das gleiche Plakat – Mao, der über einem Meer aus roten Wolken schwebt. Ich stelle mir dasselbe Plakat in jedem Haus im gesamten Land vor. Nichts darf oberhalb von ihm hängen (das wäre eine Beleidigung), und nichts darf das Plakat verunstalten (das würde beweisen, dass der Haushalt nicht den angemessenen Respekt erweist). Ich setze mich auf. Die Babys und kleinen Kinder, die sich um mich herum zusammengekuschelt haben, bewegen sich im Schlaf. Ich lege mir die Hand auf den Bauch, um meine Übelkeit zu besänftigen. Ich muss etwas gegessen oder getrunken haben, das mir nicht bekommen ist. Leise stehe ich von meiner Schlafmatte auf und gehe nach draußen.
    Die Frühlingsluft ist frisch, der Himmel strahlend blau. Von der Terrasse aus blicke ich über mehrere Rapsfelder. Die gelben Pflanzen stehen in voller Blüte und erinnern mich an den Ackersenf, der um diese Jahreszeit in Südkalifornien blüht. Aus den Schornsteinen im ganzen Gründrachendorf steigt Rauch auf. Ich hacke Holz und schüre den Herd draußen an. Dann gehe ich mit zwei Eimern hinunter zum Bach, um Wasser zu holen, schleppe sie wieder den Hügel hinauf und setze Wasser auf.
    Meine Schwiegermutter kommt zu mir nach draußen. »Du putzt dir die Zähne immer noch mit abgekochtem Wasser?«, fragt sie mit unaufrichtigem Staunen. »Du wirst nie zu uns gehören, wenn du das Wasser nicht trinken kannst. Komm, ich mach dir Tee mit Ingwer, für deinen Bauch. Das hat meinen immer beruhigt.«
    Da Sonntag ist und wir nicht für die Kommune arbeiten müssen, lässt sich jeder Zeit beim Anziehen. Ich sage Tao, dass ich schon in die Kantine vorgehe. Er hat nichts dagegen. Frühling umgibt mich – noch mehr Rapsfelder, üppig blühende Bäume, rosafarbene und weiße Blütenblätter, die wie Schnee durch die Luft wehen, und frische neue Triebe an den wenigen kostbaren Teesträuchern, die von Brigadeführer Lais Anordnung, auf dem gesamten Land Getreide anzupflanzen, verschont geblieben sind. Wir hatten zwar einen harten Winter, aber ich warte schon gespannt auf die Ernte des ersten Winterweizens der Kommune im Juni. Alles andere haben wir dicht gepflanzt – Tomaten, Pak Choy, Mais und Zwiebeln – ganz nach den Anweisungen von Brigadeführer Lai. Pro mu haben wir die doppelte bis dreifache Menge Samen ausgebracht. Wir reden uns ein, dass uns der Vorsitzende Mao bestimmt nicht in die falsche Richtung steuern würde. Ja, die längeren Tage und das wärmere Wetter haben meine Stimmung sehr verbessert. Vielleicht war das alles doch kein Fehler. Vielleicht war ich einfach nur ein Mädchen aus Los Angeles, dem zu viele Jahre der Bequemlichkeit und Verschwendung nachhingen.
    Wenn ich jetzt das leuchtende Grün der Felder vor dem Himmel betrachte, würde ich mich gerne irgendwohin setzen und den Tag mit Malen und Zeichnen verbringen. Stattdessen nehme ich ein bescheidenes kleines Frühstück zu mir, gehe nach Hause und verbringe den restlichen Vormittag damit, meiner Mutter und meiner Tante Briefe zu schreiben. »Das Leben ist in Ordnung. Das Wetter ist besser.« Morgen werde ich am Teich auf den Postboten warten. Ich werde ihm die Briefe geben und hoffen, dass er welche für mich dabeihat.
    Am späten Nachmittag erwacht plötzlich der Lautsprecher knisternd zum Leben.
    »Alle Genossinnen und Genossen sofort zur Kantine!« Das ist die Stimme des Brigadeführers. »Alle Genossinnen und Genossen sofort zur Kantine!«
    Eigentlich steht keine politische Kundgebung an, aber wir gehorchen. Als wir uns dem Gelände nähern, auf dem sich die Kantine, die Kinderkrippe und die Führungshalle befinden, stellen wir fest, dass es sich um ein kommunenweites Treffen handelt. Es kommt selten vor, dass wir alle gleichzeitig zusammen sind, aber nun sind hier an die viertausend. Vielleicht werden wir »einen Sputnik starten« – ein Vierundzwanzig-Stunden-Projekt, angeregt vom Alten großen Bruder, das die Teilnahme der gesamten Kommune verlangt. Früher in diesem Jahr startete das ganze Land einen Sputnik und verbrachte vierundzwanzig Stunden damit, mehr Eisen zu produzieren als die Vereinigten Staaten in einem Monat – zumindest sagte man uns das –, doch das Ergebnis war nicht nur wertlos, sondern Kommunen wie die unsere hatten fast keine Sicheln, Hämmer oder Eimer mehr. Aber nein, wir wurden nicht

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