Tochter des Glueck
haben das Schwiegertöchter in Zeiten des Hungers für ihre Schwiegermütter gemacht, aus Ehrfurcht und Respekt. Ich tue es, weil ich meine Tochter liebe. Z. G. gießt wortlos Tee auf das Blut. Ich löffle Joy ein bisschen in den Mund, während Z. G. einen anderen Löffel für das Baby anbläst, um ihn zu kühlen. Unsere Blicke treffen sich. Und jetzt?
Ich bin hin- und hergerissen. Sollen wir hierbleiben, bis sie wieder bei Kräften sind, oder sollen wir versuchen, sie so schnell wie möglich nach Shanghai zu bringen? Was wird passieren, wenn der Brigadeführer merkt, dass wir zurück nach Shanghai wollen? Es steht fest, dass er Lebensmittel gehortet hat, während gleichzeitig Menschen in der Kommune starben. Welche Strafe würde ihn dafür erwarten, und was würde der Brigadeführer alles tun, um seine Schandtaten nicht ans Licht kommen zu lassen? Wir müssen hier weg, und zwar schnell.
Ich habe wenig Hoffnung. Z. G. ist bloß Künstler, und dazu noch ein Hasenkünstler. Mit einer Notsituation kann er nicht gut umgehen, aber dann wird mir urplötzlich klar, dass ich das genauso wenig kann. Meine Schwester hat immer alle Schwierigkeiten für uns gelöst. Was würde May tun? Nachdem ich vergewaltigt worden und meine Mutter gestorben war, legte mich May in einen Schubkarren und brachte mich in Sicherheit.
»Kannst du einen Schubkarren schieben?«, frage ich Z. G.
Wir schnappen uns ein paar Steppdecken und polstern damit zwei der Schubkarren aus. Dann trägt Z. G. Joy und das Baby nach draußen und legt sie auf die Decken. Während er zurückgeht, um Tao zu holen, gebe ich Joy noch mehr von dem Bluttee und einen halben Kräcker, den ich vorgekaut habe. Z. G. kommt wieder aus dem Haus. Er stützt Tao, der gerade noch genug Kraft hat, um zu laufen. Als Joy ihn sieht, murmelt sie etwas und schüttelt den Kopf. »Nein, nein, nein.« Sie muss im Delirium sein.
Ich streiche ihr die Haare aus der Stirn. »Jetzt wird alles gut.«
Joy wendet den Kopf ab und schließt die Augen. Z. G. und ich heben unsere Schubkarren an und gehen los. Der erste Teil ist einfach. Joy wiegt fast nichts, und es geht bergab. Beim Hofhaus biegen wir rechts ab. Vor dem Eingangstor bleibe ich stehen.
»Warte!«, rufe ich Z. G. zu und renne schnell ins Haus. Kumei, Yong und Ta-ming sind nicht in der Küche. Ich eile durch die Höfe in Kumeis Schlafzimmer. Sie liegt auf dem Bett. Ta-ming sitzt im Schneidersitz neben ihr. In seinen Mundwinkeln und Augen krabbeln Fliegen. Er ist nur ein Haufen spitzer Knochen. Sein Blick ist leer.
»Ta-ming«, sage ich leise.
Er starrt weiter seine Mutter an, offenbar unfähig, genügend Kraft aufzubringen, den Kopf zu wenden. Ich nähere mich ihm langsam, damit er nicht erschrickt. Aber in Wahrheit ist er vielleicht schon darüber hinaus, erschreckt werden zu können. Ich versuche Kumei zu wecken, ich rufe ihren Namen und schüttle sie. Sie schlägt die Augen nicht auf, und ihr Körper bleibt schlaff. Es ist zu spät, etwas für sie zu tun, doch ich kann Ta-ming nicht hierlassen – nicht, nachdem ich all die anderen Kinder und Babys in den Löchern am Straßenrand zurückgelassen habe. Und Yong, nein, sie kann nicht mehr am Leben sein. Ich nehme Ta-ming an der Hand, und er blickt zu mir auf.
»Kannst du laufen?«, frage ich.
Er bewegt sich wie ein Greis – schwankend, bedächtig und langsam. Ich gehe zu der Truhe in der Ecke, nehme ein paar Kleider, die Geige des Jungen – so ungefähr alles, was vom Erbe seines Vaters noch übrig ist – und ein paar Zeichnungen, die Kumei im Unterricht bei Z. G. gemacht hat. Dann gehen wir durch die Stille der Höfe und Gänge des Hofhauses zurück. Sobald er und seine weltlichen Besitztümer in dem Schubkarren neben Joy untergebracht sind, packe ich wieder die Griffe, und wir kehren ins Zentrum der Kommune zurück.
Ich habe entsetzliche Angst davor, was passieren wird, wenn wir das Auto erreichen. Wie durch ein Wunder sind der Brigadeführer und seine Wachleute nirgends zu sehen. Wir haben keine Zeit, uns zu fragen, wo sie sind oder was sie planen. Z. G. und ich schieben die vier beinahe leblosen Körper auf den Rücksitz. Z. G. kommt zu mir nach vorne, ich lasse den Motor aufheulen, und wir beginnen unsere lange und grausige Fahrt durch die Straßen des Todes in Richtung Shanghai.
Am liebsten würde ich direkt aus dem Land hinausfahren. Nach Norden in die Sowjetunion? Das könnte schlimmer sein als unsere jetzige Situation. Nach Kanton im Süden, wo wir hoffen könnten,
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