Tochter des Glueck
Staaten –, oder revisionistisch, bezogen auf die Sowjetunion. Aber das ist egal, denn dann bin ich weg, weg, weg.
Z. G. kommt zu mir. »Im Westen heißt es, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, sagt er. »Hier in China wird Schönheit durch Politik und Realismus definiert. Aber was ist das Schönste, das ich kenne? Es sind die Gefühle des Herzens – die Liebe, die du für Samantha empfindest, die Liebe, die du für Pearl und May empfindest. Diese Dinge sind rein, wahr und unveränderlich.«
Seine Worte dringen in mich ein. Ich habe meinen Vater Sam geliebt, und das wird sich nie ändern, aber Z. G. ist ebenfalls mein Vater. Die Zeit, die Geduld, die Technik und das Gespür für Farbe, die er mir geschenkt hat, haben mein Leben in einer Weise verändert, die ich noch nicht einmal ansatzweise begriffen habe.
»Ich habe immer geglaubt, ai kuo – die Liebe zu China und unserem Volk – sei das Wichtigste im Leben«, sage ich. »Dann dachte ich, jemanden ai jen – Geliebter – nennen zu dürfen, sei das Wichtigste.« Ich werfe einen Blick zu Tao hinüber. Als er meine Worte hört, versteift sich sein Rücken, aber er dreht sich nicht zu mir um. »Jetzt begreife ich, dass die Liebe etwas Größeres ist. Kung ai – allumfassende Liebe – ist das Allerwichtigste.«
»Das hast du auf deinem Bild gezeigt«, bemerkt Z. G. »Die Kunst ist der Herzschlag des Künstlers, und du hast deinen Herzschlag gefunden.«
Mein Vater lobt mich noch mehr und meint, das Bild sei das Beste, was er seit Jahren gesehen habe. Nachdem er das Atelier verlassen hat, arbeiten Tao und ich schweigend weiter. Um halb zwei sammle ich das Baby und Ta-ming ein. Tao beginnt damit, seine und Z. G.s Bilder für die Messe einzupacken. An der Tür drehe ich mich ein letztes Mal zu meinem Bild um. Ja, meinen Herzschlag spüre ich ganz deutlich.
Um halb drei treffen wir uns wieder bei meiner Mutter. Wir suchen die diversen Dokumente, Fotografien und andere Papiere zusammen, die wir ausfüllen mussten. Mit dem Bus fahren wir zum Amt für auswärtige Angelegenheiten, um unsere Pässe zu holen. Am Schalterfenster werden wir von Genossin Yikai begrüßt, einer drahtigen und überraschend freundlichen Frau, die uns seit beinahe sechs Monaten jede Woche empfangen hat. Wir zeigen ihr unsere Unterlagen, die sie schon zig Male gesehen hat, aber nun hat sie auch das letzte Dokument, das noch erforderlich war, in Händen. Sie strahlt, als sie die Heiratsurkunde von Dun und meiner Mutter sieht. »Endlich!«, ruft sie. »Alles Gute!« Sie blättert die anderen Papiere durch, wobei sie auf Ta-mings und Samanthas erst vor Kurzem ausgestellte Geburtsurkunden kaum einen Blick wirft. Wo wir die herhaben? Ich konnte wahrheitsgemäß behaupten, dass ich von der Volkskommune Löwenzahn Nummer acht nie Papiere für Samantha bekommen habe. Meine Mutter hat gelogen. Sie erzählte, sie habe Ta-ming adoptiert, nachdem sie ihn verlassen in einer Grube am Straßenrand gefunden habe.
»Du bist eine gute Genossin, dass du dem Kind geholfen hast«, lobt Genossin Yikai meine Mutter, wie jedes Mal, wenn wir herkommen. »Außerdem sollte jede Frau einen Sohn haben.« Eine Frage allerdings quält sie noch. »China ist das beste Land auf der ganzen Welt. Warum wollt ihr denn von hier weg, und sei es nur für einen Besuch?«
»Du hast völlig recht, Genossin Yikai«, stimmt meine Mutter ihr zu. »Der Vorsitzende Mao ist unsere Mutter und unser Vater, aber findest du nicht, es ist auch wichtig, dass sich Blutsverwandte sehen? Ich möchte, dass meine Schwester – die wir vor langer Zeit an den kapitalistischen Westen verloren haben – unsere gute Familie sehen kann.« Sie deutet auf Dun, Ta-ming, das Baby und mich. »Wenn sie das sieht, will sie bestimmt in ihr Vaterland zurückkehren.«
Genossin Yikai nickt gemessen. Sie stempelt die fünf Pässe ab und schiebt sie unter dem Fenster durch.
»Euer ganzer Block wird stolz sein, wenn ihr deine Schwester zurückbringt«, sagt sie. »Gute Reise.«
Wie geplant kehren wir zum Haus zurück, um Koch zu holen, denn Inspektor Wu hat verlangt, dass jemand für uns bürgt. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zur Polizei, wo wir an der Schlange von Leuten vorbeigehen, die auf Reise- und Ausreisegenehmigungen hoffen. Wir werden direkt zu Inspektor Wu vorgelassen, der meine Mutter seit ihrer Ankunft in Shanghai befragt hat. Er behandelt Direktor Koch respektvoll und bietet ihm einen Stuhl und Tee an. Dann kommt er gleich zur
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