Tochter des Glueck
und tätschelt ihr den Kopf.
Ta-ming nimmt den Platz am Fenster ein, wo er auf die Straße hinunterschauen kann. Der arme Junge ist nicht mehr das glückliche Kind, das ich im Gründrachendorf kennengelernt habe. Er spricht nicht über seine Mutter, das Hofhaus, den Hunger oder das schreckliche Erlebnis, ganz allein im dunklen Kofferraum von Z. G.s Auto eingesperrt zu sein. Er lächelt kaum einmal, aber das war wohl zu erwarten. Dun bat einen Freund, der an der Universität westliche Musik unterrichtet, dem Jungen ein paar einfache Geigenstunden zu geben. Er sagt, die Geige des Landbesitzers sei recht alt und von einigem Wert. Was Ta-ming nun glücklich macht, sind die Geigenstunden und die Zeit, die er abends in unserem Zimmer üben darf. Ansonsten ist er still und nachdenklich.
Z. G. betritt den Raum. »Guten Morgen« sagt er. »Seid ihr bereit zu malen?« Er geht hinüber zu Tao, und sie sprechen über seine Arbeit. »Es gefällt mir, wie rau und kalt die Felder aussehen …«
Die Zeit, die wir zusammen verbringen, erinnert mich in vielerlei Hinsicht an den Privatunterricht, den Tao und ich im Hofhaus bekommen haben, allerdings ohne unsere verrückte Liebe. Z. G. behandelt Tao und mich immer noch unterschiedlich. Er bewundert Taos Werke und lobt ihn als den Vorbildkünstler, zu dem er nun geworden ist. Mit diesem Theater soll die überhöhte Selbsteinschätzung meines Mannes nur noch mehr aufgebaut werden. Z. G. bringt mir die Technik bei, mit der er früher die Kalendermädchenplakate von meiner Mutter und meiner Tante gemalt hat – man reibt Kohlepulver über ein Bild und malt dann mit Aquarellfarbe darüber, um bei den Wangen, dem Stoff, den Haaren, Möbeln und dem Himmel mehr Wärme und Tiefe zu erzielen.
Bei meiner Arbeit versuchte ich zu erreichen, was Z. G. als den Kern des Strebens der chinesischen Kunst bezeichnete, als ich damals zu ihm kam: die innere Welt des Herzens und des Denkens abzubilden. Meine Mutter und Z. G. haben mich körperlich gerettet, aber in meinem hoffnungslosesten Moment habe ich meine wahre Stimme gefunden, die mir Herz und Seele gerettet hat. Kunst um der Kunst willen, das motiviert mich nicht. Politik ist gewiss auch nicht mehr das, was mich motiviert. Mich motivieren Emotionen. Die stärkste dieser Emotionen ist die Liebe – die Liebe zu meinen beiden Müttern, meinen beiden Vätern und meinem Baby. Während meiner Genesung begann ich etwas zu sehen . Augenblicke aus meiner Kindheit fielen mir ein: Wie ich mit meiner Großmutter Erbsenschoten putze, wie ich mit meinem Großvater durch China City gehe, wie ich mich an einem Filmset zusammen mit meiner Tante umkleide. Und natürlich alles, was meine Mutter mit mir gemacht hat: Wie sie mir ein Trägerkleid anprobiert, das sie genäht hat, wie sie mir hilft, die Namen aller Kinder in meiner Klasse auf den Karten für den Valentinstag zu buchstabieren, wie sie mich mit in die Kirche nimmt, an den Strand, in die chinesische Schule, all die Dinge, die mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich nun bin.
Das Neujahrsplakat – das damals wie heute schöne Mädchen zeigt – ist zu meiner Kunstform geworden und zu meinem Weg, meine Vision zu realisieren. Das Bild, an dem ich arbeite, zeigt meine zwei Mütter – die Mutter, die mich geboren hat, und die Mutter, der ich so wichtig war, dass sie mir sogar bis hierher gefolgt ist. Ich bin zwischen ihnen – die Verbindung, das Geheimnis, diejenige, die geliebt wurde. Gemeinsam betrachten wir ein kleines Mädchen, Samantha, das gerade gelernt hat, ohne Hilfe zu sitzen. Wir sind drei Generationen von Frauen, die gelitten und gelacht, gekämpft und triumphiert haben. Mein Neujahrsplakat ist das Dankeschön meines Herzens für das Geschenk des Lebens. Dass ich es in dem Stil gemalt habe, den Z. G. während der Zeit der Kalendermädchen perfektioniert hat, macht mich glücklich. Meine beiden Mütter haben einen cremefarbenen Teint, rote Lippen, Augenbrauen wie Weidenblätter – noch nicht berührt von den Spuren der Zeit, von Sorgen oder vom sozialistischen Realismus. Sie sind, wie sie sein sollen – für alle Zeit schön.
Mein Aquarell wird dieses Haus nie verlassen. Wir haben beschlossen, dass es zusammen mit meinen anderen Arbeiten hierbleiben muss, als Beweis für die Behörden, dass Z. G. und Tao nie den Verdacht hatten, ich wollte fliehen. Wenn andere es sehen, werde ich wahrscheinlich beschuldigt, Ausländisches zu verherrlichen, reaktionär zu sein – bezogen auf die Vereinigten
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