Tochter des Glueck
wollte und dort die welken Blumen in einer Vase auf dem Tisch gesehen hat. Deshalb dachte sie, Madame Hu würde zurückkommen. Mom hofft, was sie da tut, wird nun die anderen glauben lassen, wir seien nur ein paar Tage weg. Wir wollen, dass weder Z. G. noch sonst jemand Schwierigkeiten bekommt, wenn wir weg sind. Wenn die Polizei die Mieter verhört, werden sie wahrheitsgemäß antworten können, dass sie nicht den geringsten Verdacht hegten. Als Beweis werden sie auf die Blumen meiner Mutter zeigen.
Ich mache Abendessen. Alle sitzen um den Tisch im Esszimmer. Wir hören uns den Klatsch des Tages an. Eine der ehemaligen Tänzerinnen wurde in der Textilfabrik befördert. Das ärgert ihre Mitbewohnerin. Die beiden zanken sich, wie es nur zwei Frauen können, die sich seit dreiundzwanzig Jahren dasselbe kleine Zimmer teilen. Ja, alles ist genauso, wie es sein sollte. Selbst als Koch die Heirat des kleinen Fräuleins und des Professors verkündet, wirkt niemand sonderlich überrascht.
»In diesem Haus gibt es keine Geheimnisse«, sagt der Schuster und hebt seine Tasse mit heißem Wasser, um auf ihr Wohl zu trinken.
Meine Mutter blickt von einem Gesicht zum anderen. Sie betrachtet die ausgebleichte Tapete und die Art-déco-Wandleuchter, die sie in einem Leihhaus gekauft hat. Mit den Fingern streicht sie über die Tischplatte, prägt sie sich ein. Ich sehe, dass sie mit den Tränen kämpft. Kurz fürchte ich, dass sie alles verrät, doch dann blinzelt sie, räuspert sich und nimmt ihre Essstäbchen zur Hand.
P EARL
Ein Ort der Erinnerung
I ch verlasse das Heim meiner Familie fast genauso, wie ich gekommen bin. Die Mieter drängen sich im Gang um mich und geben mir gute Ratschläge. Als Koch hereinkommt, machen sie Platz. Das Wissen darum, dass ich ihn nie mehr wiedersehen werde, brennt mir in der Brust, aber ich sage nur: »Kümmere dich bis zum nächsten Dienstag um alles.« Dann wende ich mich an alle. »Vergesst nicht die Reinlichkeitskampagne. Wenn ich wiederkomme, will ich keine …«
»Wir wissen schon, wir wissen schon«, antworten die anderen im Chor. Dann nehme ich die Reisetasche, mit der ich nach China gekommen bin, gehe zur Tür hinaus und die Stufen in den Garten hinunter. Joy trägt das Baby. Dun nimmt Ta-ming an die Hand. Ich halte den anderen das Tor auf. Ich werfe keinen Blick zurück. Dann gehen wir gemeinsam zur Ecke und steigen in den ersten von mehreren Bussen, die uns zum Flughafen bringen.
Als Papiersammlerin habe ich viel Zeit auf dem Bund verbracht, habe den Schiffen zugesehen, die flussaufwärts und -abwärts fuhren, und mir überlegt, ob es eine Möglichkeit gibt, Shanghai auf dem Whangpoo zu verlassen. Noch bis vor Kurzem war ich davon ausgegangen, dass wir mit dem Boot oder dem Zug nach Kanton fahren, aber Z. G.s Vorgesetzte bei der Künstlervereinigung haben darauf bestanden, dass er mit Tao, Joy, dem Baby und der Amah nach Kanton fliegt. Flugtickets seien zwar teuer, sagten sie zu Z. G., doch wir wären dann nicht so lange fort, und sie müssten uns nicht mit so vielen Bezugsscheinen für Reis ausstatten. Von meinem eigenen Geld habe ich noch die Tickets für Dun und Ta-ming gekauft.
Wir warten sechs Stunden im Terminal. Einige von uns wechseln besorgte Blicke. Z. G. und Tao sollen ihre Bilder gleich morgen früh bei der Eröffnung der Messe zeigen. Was ist, wenn das Flugzeug heute nicht startet? Wenn wir es bis zum Morgen nicht nach Kanton schaffen, gibt es keinen Grund mehr für Z. G. und Tao – und deshalb auch nicht für uns andere –, nach Kanton zu fahren. Wir warten und warten. Babys greinen, Kinder quengeln. Die Menschen drängen sich zusammen, einpackt in dicke Schichten wattierter Kleidung – sie haben zusätzliche Sachen dabei, ohne dass es auffallen soll, aber es fällt auf. Der ätzende Geruch von feuchten Menschen, schmutzigen Windeln, Zigarettenrauch und eingelegten Rüben klebt mir in der Kehle. Auf dem Linoleumboden pappt Spucke, nikotinversetzer Schleim, liegen Taschen, Körbe und Beutel. Soldaten patrouillieren in den Gängen und bleiben gelegentlich stehen, um Papiere und Lichtbildausweise zu überprüfen. Das Warten, die Angst, die Sorge bei jedem Mal, wenn die bewaffneten Soldaten vorbeikommen, ist nervenaufreibend. Dennoch haben Hoffnungsfunken in fahlen Gesichtern die leeren Blicke ersetzt. Vielleicht wird es im Süden besser.
Schließlich ist das Flugzeug startbereit, aber ein Flug in einer chinesischen Propellermaschine ist eine völlig andere Geschichte
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