Tochter des Glueck
einem Klemmbrett durch. Welche Verwandte leben noch in meinem Heimatdorf, welcher Arbeit gehen sie nach, wer sind meine Freunde in China, wie oft treffe ich sie? Plötzlich kommt eine Durchsage über Lautsprecher. Inspektor Wu steht auf, sagt, ich soll mich nicht von der Stelle rühren, und verlässt das Zimmer. Kurz darauf ertönt lauter Gesang. Ich linse aus der Tür. Eine Gruppe uniformierter Männer und Frauen, Maos kleines Rotes Buch in der Hand, skandieren Parolen. Ich schließe die Tür und nehme wieder Platz. Eine halbe Stunde später kehrt Kommissar Wu zurück. Seine Fragen gelten jetzt nicht mehr meiner Familie und meinem Leben, sondern meiner Rückkehr.
»Weshalb hast du dich nicht bei der Kommission für Belange von Überseechinesen gemeldet?«
»Von der hatte ich bisher noch gar nicht gehört und wusste deshalb nicht, dass man sich dort melden muss.«
»Jetzt weißt du es und gehst hin. Dort lernst du, patriotisch zu denken. Dort werden deine Geldanweisungen aus dem Ausland bearbeitet.«
»Ich erwarte keine Geldanweisungen.« Das ist eine Lüge. Ich möchte nicht, dass mein Geld eine Regierungsbehörde durchläuft. Was, wenn sie es mir nicht vollständig auszahlen, wie der Mann vom Familienverband gesagt hat? »Ich will lieber arbeiten.«
»Um zu arbeiten, brauchst du eine danwei – eine Arbeitseinheit«, sagt er. »Um eine Stelle zu bekommen, brauchst du einen hukou – einen Wohnberechtigungsschein. Um einen Wohnberechtigungsschein zu bekommen, musst du dich bei der örtlichen Regierungsbehörde anmelden. Warum hast du dich bisher nicht angemeldet?«
All das macht mir Angst. Ich bin erst eine Woche hier, und schon haben sie mich erwischt und es auf mich abgesehen. Jetzt wissen die Behörden von mir, und damit wird es viel schwerer, mich zu bewegen. Falls sie mich nicht gleich in eine Zelle stecken.
»Kannst du mir denn dabei helfen, Genosse?« Ich versuche, meine Angst zu verbergen.
»Du bekommst einen Wohnberechtigungsschein für dein altes Zuhause, aber ich muss betonen, dass es nicht mehr dir gehört. Es gehört jetzt dem Volk. Verstanden?«
»Ich verstehe.«
»Außerdem brauchst du Bezugsscheine«, fährt er fort. »Die Regierung hat die Verteilung aller lebensnotwendigen Güter in die Hand genommen. Die Regierung kauft direkt von Bauern und Erzeugern, und die Stadtbewohner im ganzen Land müssen alles, was man zum Leben braucht, mit Bezugsscheinen in von der Regierung betriebenen Läden kaufen – Öl, Fleisch, Zündhölzer, Seife, Nadeln, Kohle und Stoff. Bezugsscheine für Reis sind natürlich am wichtigsten. Sobald du Arbeit gefunden hast, kommst du wieder her, und ich helfe dir, die Bezugsscheine zu besorgen.«
»Danke.«
Er hebt die Hand. »Ich bin noch nicht fertig. Bezugsscheine für Reis sind nur regional gültig. Wenn du auf Reisen bist, musst du besondere national gültige Scheine beantragen. Wenn du die nicht hast, musst du bei deinen Mahlzeiten ohne Reis auskommen. Als heimgekehrte Überseechinesin darfst du zwar reisen, aber du darfst nicht ohne meine Erlaubnis die Stadt verlassen. Du bist nach China zurückgekehrt. Du musst tun, was wir sagen. Verstanden?«, fragt er noch einmal.
»Ja, ich verstehe.« Ich habe das Gefühl, um mich herum würden Mauern hochgezogen.
»Du hast Glück, Genossin«, fährt der Polizist mit falscher Freundlichkeit fort. »Für Bauern ist es nämlich kein Zuckerschlecken, wenn sie nach China heimkehren. Sie werden in ihr Heimatdorf in ihrer ursprünglichen Provinz geschickt, wo sie in einem Kollektiv landwirtschaftliche Arbeit verrichten müssen, selbst wenn sie genug Geld aus Amerika mitgebracht haben, um sich gemütlich zur Ruhe zu setzen. Aber es könnte auch schlimmer kommen. Einige unglückliche Heimkehrer werden weit in den Westen geschickt, um dort Ödland urbar zu machen und zu bestellen.«
In dem Zimmer ist es heiß und stickig, doch mir ist kalt vor Entsetzen. Sie können mich doch nicht auf irgendeinen Bauernhof schicken!
»Ich bin keine Bäuerin«, sage ich. »Ich weiß nicht, wie man diese Arbeit verrichtet.«
»Das wissen die anderen auch nicht, aber sie lernen es.« Er sieht auf seine Liste. »Bist du bereit, deine Verbindungen zu den Nationalisten in Taiwan zu gestehen?«
»Ich habe keine.«
»Warum hattest du freundschaftliche Beziehungen zu den amerikanischen Imperialisten?«
»Mein Vater hat mich verkauft und zwangsverheiratet«, sage ich. Das ist die Wahrheit, sagt aber wenig darüber aus, was wirklich geschehen
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