Tochter des Glueck
allgemein bekannt, dass das Regime die Familien von Überseechinesen als Geiseln benutzt, um Geldsendungen aus dem Ausland zu erpressen. Das ist der ganze Sinn und Zweck der Kommission für Belange von Überseechinesen. Sie beuten die Leute hier aus, damit ihre Verwandten ihnen mehr Geld schicken, mit dem sie dann den Aufbau des Landes finanzieren. Aus diesem Grund erlauben sie Familienmitgliedern nur ungern, China zu verlassen.«
»Aber du hast mir doch gerade erzählt, dass Überseechinesen ganz leicht Ausreisegenehmigungen bekommen.«
»Ja, das ist ein guter Einwand. Anträgen für Ausreisegenehmigungen, die sich nachteilig auf die Interessen des Regimes auswirken, wird nicht stattgegeben.«
»Und in welche Kategorie gehören wir dann?«
»Vielleicht in beide«, sagt er unsicher.
»Jedenfalls«, fahre ich rasch fort und versuche, zuversichtlich zu klingen, »ist die Forderung nach den Überweisungen Erpressung. Trotzdem, wenn ich in Los Angeles wäre und Joy hier, würde ich ihr jeden Dollar schicken, den ich habe, in der Hoffnung, sie herauszubekommen. Jetzt muss ich mir überlegen, wie ich uns beide herausbekomme. Man kann nicht behaupten, dass ich reich wäre, aber als arm kann man mich auch nicht bezeichnen. Ich muss in Shanghai bleiben, damit ich auf die Rückkehr von Z. G. und meiner Tochter warten kann, wo auch immer sie jetzt sein mögen. Um zu leben, brauche ich Bezugsscheine, und unterdessen muss ich möglichst unsichtbar bleiben.«
Doch die Polizei weiß von mir, und in wenigen Tagen wird auch die Kommission für Belange von Überseechinesen von mir erfahren. Ganz abgesehen davon will ich mich auf keinen Fall wie eine typische Witwe verhalten, die sich unsichtbar macht oder sich als Feigling oder Opfer gibt. Warten geht wider die Natur eines Drachen, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Ich muss eben ein hinterlistiger, stiller und vorsichtiger Drache sein.
»Du solltest dir Arbeit suchen«, rät mir Dun.
»Ich habe Kommissar Wu schon gesagt, dass ich arbeiten möchte. Vielleicht könnte ich mit den Tänzerinnen zusammenarbeiten. Sie machen Füller nach dem Modell des Parker 51.« Ich zitiere den Werbespruch der Fabrik, den die Tänzerinnen skandieren, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. »Wir holen Parker ein!«
»Ich habe eine bessere Idee. Du solltest Papiersammlerin werden.«
»Ich weiß nicht, was das ist.«
»Wir hatten schon immer Ehrfurcht vor beschriftetem Papier«, erklärt er professoral. »In der Song-Dynastie sammelten die Mitglieder der Gesellschaft für beschriebenes Papier alles, auf dem etwas geschrieben stand. Sie verbrannten das Papier bei Zeremonien und bewahrten die Asche rituell auf. Alle drei Jahre brachten sie die Asche zu einem Fluss oder ans Meer und verstreuten sie im Wasser, damit sie als neue Wörter und Bilder wiedergeboren wurde. Erinnerst du dich an die Bambuskörbe, die früher hier in Shanghai an den Straßenecken standen? Die Leute konnten dort ihr beschriftetes Papier sachgemäß entsorgen.«
Dunkel erinnere ich mich an diese Körbe, aber meine Schwester und ich hatten nicht die mindeste Achtung vor beschriebenem Papier, denn wir waren ja Modelle für Werbeplakate, beschriftetes Papier der allerkommerziellsten Sorte.
»Früher war das ein ehrenwerter Beruf«, fährt Dun fort, »heute gilt er kaum mehr als der eines Müllsammlers. Trotzdem bekommst du dadurch alles, was du brauchst – Anonymität, Zugang zu allen Ecken der Stadt, du hältst die Regeln ein, die du befolgen sollst, und du bekommst Bezugsscheine und bist beschäftigt, bis deine Tochter zurückkehrt.«
J OY
Das echte Leben beobachten und daraus lernen
E s ist noch dunkel, als die ersten Hähne krähen. Ich bleibe noch ein paar Minuten liegen und lausche dem Gezwitscher der Singvögel, dem Knarzen der Dielen im Nachbarzimmer, als mein Vater aufsteht, und den Leuten draußen vor dem Hofhaus, die sich einen guten Morgen wünschen. Wegen der Holzbretter auf dem Boden, den Schiebetüren und den dünnen Wänden gibt es hier keine Geheimnisse. Man hört jeden Schritt, jedes Schnarchen, jedes Husten, Seufzen und Geflüster. Ich stehe auf und ziehe mir rasch eine weite Hose und ein ausgeblichenes, mit Blumen bedrucktes Baumwollhemd an – beides ist oft getragen und gewaschen worden und daher ganz weich, ein Geschenk von Kumei. Ich kämme mir die Haare, wünsche, sie wären lang genug, um sie zu Zöpfen zu flechten, wie es die anderen Mädchen im Dorf tun. Stattdessen binde ich mir ein Tuch
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