Tochter des Glücks - Roman
leben, als wäre es ein karges«. Für mich leben wir in einem kargen Jahr, in dem wir alles tun, um über die Runden zu kommen, und trotzdem reicht es nicht.
Die Männer von Brigadeführer Lai kommen zwei Wochen lang jeden Tag ins Gründrachendorf. (Es ist so: Man sieht ganz leicht, wer gegessen hat, einfach an den Körpern der Leute. Der Brigadeführer und seine Milizsoldaten zeigen keine Anzeichen von Hunger. Sie haben nicht abgenommen, keine eingefallenen Bäuche und keine Wassereinlagerungen an Armen und Beinen.) Wenn Lais Männer ein Versteck finden, wird es sie davon abhalten, weitere Häuser im Dorf zu durchsuchen, hoffen die Leute, und die Strafe wird nicht zu hart ausfallen. Wer Glück hat, wird mit dem Stock geschlagen, oder man bindet dem Übeltäter die Hände hinter dem Rücken zusammen und hängt ihn an den Handgelenken an einem Baum auf, bis er vor Schmerz schreit. Wer weniger Glück hat, darf nicht mehr in der Kantine essen. Und wer am wenigsten Glück hat, wird zu einem entlegenen Bewässerungsprojekt geschickt, aber niemand, der bei diesem Wetter in eiskaltem Wasser arbeitet, kann überleben. Diejenigen, die weggeschickt wurden, sind nicht zurückgekehrt, doch viele von denen, die geschlagen wurden, starben, und in der Kantine nichts zu essen zu bekommen, ist auch eine Art zu sterben, nur langsamer. Das Dorf, die Felder und die Kantine sehen langsam aus wie Filmsets – alles nur Kulisse. Die Leute um mich herum wirken auch nicht echt, sie setzen ein Lächeln auf und skandieren Parolen über Dinge, die sie nicht glauben. Alle tun noch so, als würden sie den Großen Sprung nach vorn offen, freudig und begeistert begrüßen, aber die Verstohlenheit der Leute erinnert mich an Ratten, die sich an Wänden entlangschleichen.
Wenngleich unsere erste Winterweizenernte dürftig war, beharrt Brigadeführer Lai auf dem Vorhaben, noch mehr Reis- und Gemüsefelder sowie Teeterrassen in Weizenfelder umzuwandeln. Nun sollen wir auch noch tiefpflügen. Wir sollen über drei Meter tief umgraben, um die Ackerfurchen ergiebiger denn je zu machen – zumindest sagt er das. Die Bauern wissen, dass der obere Mutterboden am wertvollsten ist und alles darunter nutzlos, aber der Brigadeführer lässt kein Nein gelten. Obwohl Winter ist, müssen wir wieder auf die Felder. Ein Mann zieht einen Pflug, zwei schieben ihn, und der Rest von uns vertieft die Furche mit Schaufeln und Hacken. Die Parole lautet: »Pflügt tief, um den amerikanischen Aggressor zu vergraben!« Wenn wir nicht die Parole nachsprechen, sollen wir skandieren: »Wir arbeiten den ganzen Tag! Wir arbeiten die ganze Nacht! Wir arbeiten den ganzen Tag! Wir arbeiten die ganze Nacht!« Das tun wir auch, manchmal hören wir nur kurz auf, um einen Moment am Feldrand zu schlafen oder unsere eine Schale Reisbrei zu schlürfen. Als jemand den Brigadeführer fragt, warum wir unseren eigenen Körper für eine Arbeit hergeben müssen, die bisher immer von Zugtieren verrichtet wurde, antwortet er: »Ein Ochse oder ein Wasserbüffel kann nicht so tief pflügen wie Menschen.«
Ich denke an die Geschichte, die mir Tao über den Wasserbüffel erzählt hat und warum er Scheuklappen trägt. Er sagte, das Leiden des Tieres in diesem Leben sei die Strafe für Dinge, die es in einem vergangenen Leben getan hat. Jetzt ist mir ein anderer Grund eingefallen. Um einen Ochsen oder einen Wasserbüffel dazu zu bringen, so hart zu arbeiten, muss man ihn blind und unwissend machen. Das tut die Regierung derzeit mit den Volksmassen. Warum? Weil die Bauern die wahren Lasttiere Chinas sind. Trotzdem macht niemand dem Vorsitzenden Mao Vorwürfe. »Der Große Steuermann würde nichts tun, was uns schadet«, sagen meine Nachbarn. »Die Menschen um ihn herum sagen ihm einfach nicht die Wahrheit. Das ist nicht seine Schuld.« Das behaupten sie, obwohl sie dunkle Flecken auf Lippen und Gliedmaßen bekommen, die sich rasch in eitrige Wunden verwandeln. Ihnen ist schlecht, gleichzeitig sind sie hungrig, ihnen ist schwindlig, und sie können nicht aufhören zu laufen. Anscheinend werden wir alle für Dinge bestraft, die wir entweder in diesem oder in unseren früheren Leben getan haben. Die einzige gute Nachricht – wenn man das so nennen kann – ist, dass wir hin und wieder getrocknete Süßkartoffeln bekommen, wie früher die Zugtiere, als Ergänzung zu unserem halben jin Reis.
Ende Dezember verringert Brigadeführer Lai unsere Getreideration auf ein Viertel jin pro Person. Das sind gerade
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