Tochter des Glücks - Roman
Familien – unsere gehört auch dazu – schicken nachts kleine Kinder auf die Felder, um unreife Triebe von der neuen Winterweizensaat abzuschneiden. Eigentlich darf niemand die Kommune verlassen, aber Brigadeführer Lai stellt Bescheinigungen aus, die Männern – auch meinem Schwiegervater – erlauben, die Volkskommune Löwenzahn Nummer acht zu verlassen, um zu betteln oder Arbeit zu suchen. Wir wissen nicht, wie es ihnen ergehen wird, doch eines steht fest: Wenn weniger Mäuler zu stopfen sind, haben wir mehr zu essen.
Ich weiß nicht, was mich letztlich veranlasst, in die Führungshalle zu gehen und um die Scheidung zu bitten – dass mein Mann alles unternommen hat, um sich mein Wandbild als seinen Verdienst anrechnen zu lassen, dass er unser Baby nicht berühren will, dass er mich völlig ignoriert, in der Kantine Essen aus meiner Schale nimmt und es seinen Brüdern gibt oder angefangen hat, »seine Zeit zu teilen«, das bedeutet, er macht mit einigen der jungen Frauen in der Kommune herum. Früher in der Schule hatten die Mädchen einen Namen für Jungen und Männer wie meinen Mann: Hund. Tao ist ein Hund – mit den schlimmsten Eigenschaften dieses Sternzeichens. Wäre ich in einer Stadt, würde ich zum Bezirksvolksgericht gehen und meinen Fall vor einen Richter, einen Staatsanwalt, einen Protokollführer und einen Polizisten bringen. Aber ich befinde ich in einer entlegenen Kommune, was mit ein Grund dafür ist, dass Scheidungen auf dem Land so selten sind. Das Gericht besteht aus Brigadeführer Lai, Parteisekretär Feng Jin und Sung-ling, doch eine Privatveranstaltung wird das nicht. Gerade als das Essen beendet ist, komme ich zur Kantine. Die Mitglieder des Gerichts sitzen an einem der Tische, an denen sonst Essen ausgegeben wurde, und erinnern die anderen in diesem riesigen Raum aus Maisstauden daran, was wir alles nicht haben. Ohne Fernsehen, Filme, Bücher, Zeitschriften oder Zeitungen kann der Winter lang sein. Wenigstens stellt mein Antrag auf Scheidung eine Abwechslung von den Lautsprecherdurchsagen dar. Ich stelle mich ein Stück entfernt vom Gericht auf. Samantha schläft in einem Tuch, das ich mir über die Brust gebunden habe. Tao und unser Publikum sitzen hinter mir.
»Worin besteht deine Beschwerde?«, fragt Sung-ling, die einzige Frau in diesem Gremium.
»Ich habe Tao aus den falschen Gründen geheiratet«, beginne ich und zeige auf ihn. »Ich wollte wissen, ob ich Liebe verdiene …«
»In der Neuen Gesellschaft hat die Liebe keinen Platz«, verkündet Sung-ling.
Na gut.
»Als wir frisch verheiratet waren, kamen wir gut miteinander aus«, sage ich. »Dann fingen wir an zu streiten. Jetzt spricht er kaum noch mit mir.«
»So etwas passiert in einer Ehe«, sagt Sung-ling. »Du musst dich mehr bemühen.«
»Mein Mann will unsere Tochter nicht berühren«, gestehe ich. Damit wird den anderen sicher klar, was für ein Mensch Tao wirklich ist.
Als die Leute in der Kantine anfangen zu kichern, bittet Parteisekretär Feng um Ruhe und wendet sich dann an mich. »Niemand freut sich, wenn ein Mädchen geboren wird.« Er mag ja nicht lesen und schreiben können, doch seine Ansichten zu weiblichen Nachkommen sind so fest verankert, dass er aus Fu Hsüans berühmtem Gedicht zitieren kann: »Wie traurig ist es, Frau zu sein! Nichts auf der Erde gilt gleichermaßen als gemein.« Das Gedicht muss er von seinem Vater gelernt haben, der es wiederum von seinem Vater gelernt hat, wie wahrscheinlich alle Männer – und Frauen – in der Kommune und vielleicht im ganzen Land.
»Aber kleine Mädchen sind doch auch gleichberechtigt!«, erwidere ich.
Doch da mag mir niemand zustimmen.
»Du kommst deinen Pflichten als Genossin nicht nach«, tadelt mich Sung-ling. »Alles, was nicht mit der Revolution zu tun hat, ist Zeitverschwendung. Arme sollten darauf verwendet werden, für die Verbesserung des Landes zu arbeiten, nicht um Babys zu tragen.«
Trotzdem habe ich gesehen, wie Sung-ling ihre Tochter herzte. Wir saßen oft beim Stillen zusammen. Wir gingen am späten Nachmittag mit den Kleinen spazieren, wenn sie quengelten. Und – typisch Mütter – wir haben uns sogar ausgemalt, dass unsere beiden Mädchen ihr ganzes Leben lang die besten Freundinnen bleiben.
Ich möchte Tao nicht direkt vorwerfen, dass er mich betrügt, deshalb zähle ich meine anderen Gründe auf. »Ständig kritisiert er mich. Er ist misstrauisch, wenn ich mich verspäte. Er spricht kaum mit mir, obwohl wir nur zwei Zimmer haben.
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