Tod an der Ruhr
Uniformmütze tiefer ins Gesicht. Rechts der Straße, wo sich in seiner Jugend ein Waldstück bis zum Reinersbach und bis hinauf zur Holtener Straße erstreckt hatte, waren in den vergangenen Jahren neue Häuser entstanden. Auch links, zwischen den Feldern, wurde die Bebauung allmählich dichter. Sie reichte jetzt schon beinahe bis an den kurzen Stichweg heran, an dessen Ende die Baracke stand, in der die Cholerakranken mit dem Tode rangen.
Zum Hagelkreuz hin stieg die Straße leicht an. In dünnen Bächen floss Grottkamp der Regen durch die Fahrrillen der Fuhrwerke und Kutschen entgegen. Nicht immer schaffte er es, ihnen auszuweichen. Er war froh, dass er die Gummigamaschen über seine Lederschuhe gezogen hatte.
»Septemberanfang mit leichtem Regen kommt dem Bauern sehr gelegen«, ging es ihm durch den Kopf. Ja, seinen Herrn Bruder, den Bauern auf dem Grottkamphof, den würde das Wetter wohl freuen.
Nun, sei es ihm gegönnt, dem Paul. Seitdem er, Martin Grottkamp, sich mit dem älteren Bruder ausgesöhnt hatte, fiel auch für ihn so manches ab von dem, was auf dem Hof erwirtschaftet wurde.
Bauer auf dem Grottkamphof zu sein, wie sehr hatte er sich das einmal gewünscht! Aber es war anders gekommen, und er hatte keinen Grund, sich über sein Leben zu beklagen. Nicht einmal an einem Morgen wie diesem.
Was hatten die beiden jungen Hüttenarbeiter gesagt: »Auf dem Postweg liegt ein toter Mann, und der Herr Pastor Witte hat uns geschickt, Sie zu benachrichtigen.«
Aufgeregt waren sie gewesen, die beiden jungen Kerle, und erleichtert, als Grottkamp ihnen gesagt hatte, er werde die Unglücksstelle auch ohne sie finden. Sie könnten jetzt zur Arbeit gehen.
Schon genug Ärger würden sie wegen ihrer Verspätung bekommen, hatten sie gemeint. Der Meister in der Kesselschmiede werde ihnen bestimmt ein paar Stunden abziehen. Toter hin, Toter her, werde der sagen. Das interessiere ihn nicht, und das habe zwei Arbeiter auf dem Weg zur Schicht erst recht nicht zu interessieren.
Grottkamp nahm sich vor, diesem Herrn gelegentlich einen Besuch abzustatten. Der konnte doch nicht allen Ernstes den beiden jungen Männern Vorhaltungen machen. So einem Herrn Meister musste doch klar sein, dass es zu den Pflichten eines Bürgers gehörte, über einen Toten, der auf der Straße lag, umgehend die Obrigkeit zu informieren, also in diesem Fall ihn, den Polizeidiener Grottkamp.
Nun ja, dem Herrn Gendarm Schmitting Bescheid zu geben, das hätte es eventuell auch getan.
Ja, ja, Schmitting, der würde sich jetzt wieder aufregen. Wie sagte er immer, wenn er sich mal wieder bei einer mehr oder weniger wichtigen Angelegenheit übergangen fühlte: »Sie, Herr Polizeisergeant, Sie vertreten die Gemeinde Sterkrade, allenfalls die Bürgermeisterei Holten. Das Königreich Preußen, das vertrete ich. Und diese Angelegenheit, Grottkamp, die berührt die Interessen des Königreiches.«
Der arme Kerl, jetzt hatte er andere Sorgen – wenn er überhaupt noch welche hatte. Vorgestern Abend war er als einer der ersten Kranken in die Cholerabaracke gebracht worden, und gestern hatte Jacob Möllenbeck gesagt, es stehe gar nicht gut um den Herrn Gendarm.
In Grottkamps dichtem Bart hatten sich die Regentropfen zu einem kleinen Rinnsal formiert, das jetzt seinen Hals hinunterlief und hinter seinem Uniformkragen versickerte.
Er schüttelte sich und wischte energisch den Regen aus dem buschigen Bartgeflecht. »Mist, verdammter!«, schimpfte er. Vom Hagelkreuz herunter schaute der leidende Herr Jesus ihn strafend an. Martin Grottkamp bekreuzigte sich und schickte seinem Fluch ein »Gelobt sei Jesus Christus« hinterher.
Am Hagelkreuz gabelte sich die Straße. Grottkamp hielt sich rechts und sah auf dem unteren Postweg, noch vor der Holtener Straße, eine kleine Gruppe Menschen beieinanderstehen. Der Erste, den er erkannte, war Dechant Witte. Er kniete vornüber gebeugt auf der schlammigen Straße. Die Enden seiner Stola baumelten knapp über einer großen Wasserlache.
Dann entdeckte er Elisabeth Kückelmann.
Ja, er irrte sich nicht, die Frau, die da neben dem Pfarrer stand und weinte, war die, von der er einmal geglaubt hatte, sie gehöre zu ihm, die einmal sein Liesken gewesen war.
Sie hatten sich geliebt, und sie hatten sich einander versprochen, aber dann war Elisabeth Kückelmann doch nicht seine Frau geworden. Noch nicht ganz ein Jahr war er bei seinem Infanterieregiment in Deutz gewesen, als er erfahren musste, dass sein Liesken jetzt Elisabeth
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